Ein chinesischer Friedhof an der Somme

Chinesischer Friedhof in Noyelles-sur-Somme © Michael Kneffel

Chinesischer Friedhof in Noyelles-sur-Somme © Michael Kneffel

Bei der diesjährigen Ruhrtriennale hat sich William Kentridge auf grandiose Weise mit der weitgehend unbekannten Geschichte von 2 Millionen Afrikanern beschäftigt, die von den damaligen Kolonialmächten gezwungen wurden, in den Ersten Weltkrieg zu ziehen. Sein Stück The Head and the Load,  hat mich an einen chinesischen Friedhof erinnert, auf den ich vor Jahren zufällig im kleinen Dorf Noyelles-sur-Mer an der Mündung der Somme gestoßen bin. 843 chinesische Arbeiter sind hier begraben von insgesamt 150.000, die 1916 von der französichen Regierung in China angeheuert wurden. Beschäftigt wurden diese Arbeiter zunächst beim Bau der kriegswichtigen Eisenbahnlinie von Paris nach Calais und beim Transport von Munition an die Frontlinie. Schon bald wurden sie aber mehr und mehr an der Front selbst eingesetzt, beim Bau und Ausbessern von Schützengräben und beim Bergen von Leichen. Dabei gerieten sie ebenso in das feindliche Feuer wie die französischen Soldaten. Auch ihre Unterbringung und Behandlung scheint bestenfalls der von einfachen Soldaten entsprochen zu haben, obwohl sie gegen Lohn beschäftigt wurden.

Wie viele von ihnen während des Krieges und durch unmittelbare Kriegshandlungen umgekommen sind, scheint unklar zu sein. Nach China konnten anscheinend nur wenige zurückkehren.. Wie eine Informationstafel am Friedhof verrät, ist die große Mehrheit spätestens 1920 an der Spanischen Grippe verstorben.

Grabstein auf dem chinesischen Friedhof in Noyelles-sur-Somme © Michael Kneffel

Grabstein auf dem chinesischen Friedhof in Noyelles-sur-Mer © Michael Kneffel

Mein Foto der Woche – Fahrradakrobat auf der nächtlichen Promenade Le Remblai in Les Sables d´Olonne im Juli

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Als Vorgeschmack auf einen längeren Bericht über zwei großartige Urlaubswochen in Les Sables d´Olonne im Juli habe ich diesmal vier Aufnahmen zu einer Diashow zusammengestellt. Sie zeigen einen Akrobaten mit einer heißen Show vor großem Publikum auf dem nächtlichen Remblai.

Tour de France 2017 – Grand Départ in Düsseldorf

La Tour de France © Michael Kneffel

La Tour de France © Michael Kneffel

Am kommenden Samstag geht´s wieder los, nicht gleich am Mont Ventoux wie auf meinem Foto, sondern in Düsseldorf. Le Grand Départ der Tour de France 2017. Nicht dass ich diese Radsportveranstaltung sportlich noch ernst nehmen würde. Wie die meisten anderen Zuschauer denke ich mir meinen Teil, wenn nach fast 200 Kilometern Fahrstrecke hoch in den Alpen oder Pyrenäen plötzlich der Kapitän des teuersten Teams antritt, alle anderen Fahrer wie Amateure aussehen lässt und den letzten, mörderischen Anstieg schneller hinauf fährt, als ich ihn jemals hinunter fahren könnte.

Trotzdem liebe ich die Tour de France, weil die Fernsehübertragungen der einzelnen Etappen Jahr für Jahr schöne Einblicke in die verschiedensten Regionen des Landes bieten. Noch schöner, als vor den Fernseher zu sitzen, ist es allerdings, irgendwo auf dem Lande selbst als Zuschauer dabei zu sein. Die Tour de France ist das größte Volksfest des Landes. Hier feiern die Franzosen den Sommer, ihre Esskultur, sich selbst und natürlich auch den Radsport. Auch wenn das Hauptfeld erst am Nachmittag vorbei kommen wird, pilgern die Einwohner der Dörfer im Umkreis schon am Morgen zur Strecke. Stühle, Tische und Sonnenschirme werden aufgestellt, Decken ausgebreitet, die Kühltaschen mit dem Essen und den Getränken irgendwo im Schatten verstaut. Stunden vor den Radfahrern zieht eine scheinbar endlose Karawane von kleinen und großen LKW unter lautem musikalischen Getöse über die Strecke und ihre Insassen bewerfen die Menschen am Straßenrand mit allen erdenkbaren Werbegeschenken, mit Gemüsekonserven, Nudelsieben, Sonnenhüten, Blumen, Süßigkeiten… Pünktlich um 12 Uhr beginnt das große Picknick, und wenn das Hauptfeld der Fahrer dann schließlich am Nachmittag innerhalb weniger Sekunden vorbeirauscht, haben die Ordnungskräfte alle Hände voll zu tun, diejenigen von der Strecke zu halten, die unter der Mittagssonne das eine oder andere Gläschen Wein zuviel getrunken haben.

Tour de France und Karnevalsumzüge im Rheinland haben also mehr Gemeinsamkeiten, als man im ersten Augenblick so denkt. Von daher ist Düsseldorf vielleicht gar kein schlechter Ort für den diesjährigen Auftakt. Ich werde ihn auf einem Schiff am Rheinufer miterleben und bin sehr gespannt auf das Zusammentreffen von französischer und Düsseldorfer Feierkultur.

Mein Foto der Woche – der Felsenbogen von Port Blanc auf Quiberon

Felsbogen von Port Blanc © Michael Kneffel

Felsenbogen von Port Blanc  © Michael Kneffel

Diesen Sommerurlaub haben wir auf der Halbinsel Quiberon in der Bretagne verbracht. Das Foto der Woche zeigt den Felsbogen von Port Blanc (Porz Guen) an der Côte Sauvage, eine der vielen Sehenswürdigkeiten dieser großartigen Urlaubsregion. In Kürze folgt ein ausführlicher Bericht mit vielen Fotos.

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 17

17. Tag, Dienstag, 24.05.2011, Biganos – Essen, 5:30 – 20:30 Uhr

Um 5:30 Uhr schiebe ich mein Rad zum Bahnhof. Alles, was ich nicht mehr brauche, wie Sonnencreme, Insektenspray usw., lasse ich im Hotel, um Gewicht zu sparen. Zu meiner Überraschung herrscht auf dem Bahnsteig Hochbetrieb. Neben vielen Pendlern wartet schon eine ganze Schulklasse, begleitet von den Eltern, auf den Regionalzug nach Bordeaux. Ohne Mühe bekomme ich das Rad in den Wagen, der durch ein winziges Fahrradsymbol neben der Tür gekennzeichnet ist.

In Bordeaux habe ich 16 Minuten für den Umstieg. Wie es scheint, sind alle anderen Bahnsteige leicht über eine lange Rampe zu erreichen, nur nicht der Bahnsteig 1, auf dem mein TGV abfahren wird. Ich habe die Wahl zwischen einer steilen Treppe und einer ebenso steilen Rolltreppe, entscheide mich für die Rolltreppe, kann nach wenigen Metern das Rad nicht mehr halten, falle rückwärts die Treppe hinunter, bin sofort wieder auf den Beinen, fühle mich eine Weile wie ein Hamster im Laufrad, komme nicht von der Stelle, da mein Rad immer wieder die Stufen hinunter rollt, bis eine junge Frau von hinten meine Rad festhält und ich mich endlich samt Rad aufwärts bewege. Zum Glück ist hinter mir niemand zu Schaden gekommen. Ich bin etwas zerkratzt und habe ein Loch im Hosenbein, als ich auf dem Bahnsteig ankomme. Das Radabteil ist wieder im Wagen 11 hinter dem Triebwagen untergebracht. Mit letzter Kraft und schließlich sogar auf den Knien wuchte ich das Rad die Stufen hoch in den Wagen. Im Eingangsbereich steht ein kräftiger Mann Mitte 30, der mir freundlich lächelnd zusieht, aber keine Hand rührt. „Was für ein Riesenarschloch“, sage ich laut und vernehmlich, als ich auch noch die beiden Stufen in´s Abteil geschafft habe und mein Rad befestige. Die gut dreistündige Fahrt nach Paris zum Bahnhof Montparnasse verläuft ruhig. Mir ist kalt, die Gedärme halten still, ich traue mich nicht, irgendetwas zu essen oder zu trinken. Mitunter fahren wir durch Gebiete, durch die ich Tage zuvor geradelt bin. Beim Aussteigen sehe ich den Mann wieder, der mir nicht geholfen hat, diesmal mit einem Blindenhund.

Für die Fahrt zur Gare de l´Est, wo mein nächster Zug um 11:24 abfahren wird, habe ich zum Glück fast zwei Stunden. Außerhalb des Bahnhofs empfangen mich ein lausiger Wind und ein gewaltiges Verkehrschaos. Paris ersäuft im Autoverkehr. Immer wieder muss ich meine eigentliche Richtung aufgeben und Haken schlagen, weil nichts mehr voran geht und ich selbst mit dem Rad nicht durch komme. Meine Beine sind wie Pudding, für den Weg durch die Stadt brauche ich fast eine Stunde und bin froh, als ich endlich frierend und klapprig den Bahnhof erreiche.

In den TGV nach Karlsruhe komme ich mit der Hilfe eines Mitreisenden problemlos. Der Zug ist nahezu ausgebucht, und ein Mann, der, wie ich später feststelle, bei der französischen Bahngesellschaft beschäftigt ist, macht mich an, weil ich mit meinem Rad nach seiner Meinung zu viel Platz beanspruche. Der Zugbegleiter hat dagegen nichts zu beanstanden, daraufhin lässt der achtsame Bahnmitarbeiter von mir ab und konzentriert sich mit seinem Kollegen in den folgenden zweieinhalb Stunden ganz darauf, Sitze und Fußboden mit Essensresten und Verpackungsmüll voll zu sauen. In Straßburg leert sich der TGV fast völlig aus.

Auf dem Bahnhof in Karlsruhe, wo es einen geräumigen Aufzug auf jedem Bahnsteig gibt, habe ich viel Zeit für den Umstieg in den Euro-City, der mich nach Essen bringen wird. Es ist so warm wie in Arcachon, und unter dem Glasdach veranstalten tatsächlich einige Grillen ihr lautes Konzert. In den Minuten vor Abfahrt meines Zuges füllt sich der Bahnsteig enorm. Es tauchen weitere Radtouristen mit vollbepackten Rädern auf, und mir wird etwas mulmig, weil ich nicht weiß, wie viel Platz für Fahrräder der Zug bietet. Es passen aber alle problemlos in den dafür gedachten Wagen, der nur zu zwei Dritteln wie ein Großraumwagen bestuhlt ist und im restlichen Drittel Befestigungsmöglichkeiten für Räder und Rollstühle bietet. Da ich nicht mehr umsteigen muss, traue ich mich, eine Salzbrezel zu essen und eine Fanta zu trinken. Alles bleibt drin, und ich kann die Fahrt durch das Rheintal genießen.

Pünktlich um 19:57 Uhr komme ich in Essen an. Regine erwartet mich und hilft mir beim Aussteigen. Zu Hause angekommen friere ich wieder, lege mich kurz in die heiße Badewanne, falle danach in´s Bett und schlafe, unterbrochen durch ein gemeinsames Frühstück, bis zum nächsten Mittag durch. Zwei Tage lang, in denen ich mehr Gewicht verliere als auf der gesamten Radtour, hat mich noch der Darmvirus im Griff. Ich bin heilfroh, dass ich diese Tage nicht in meinem Zelt in Biganos verbringen muss.

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 16

16. Tag, Montag, 23.05.2011, Biganos – Arcachon – Biganos, 65 km,  9:30 -18:30 Uhr

Als ich aufwache, ist mir schlecht, und ich würde mich am liebsten übergeben. Die Käsepizza vom Vorabend ist mir anscheinend überhaupt nicht bekommen und hängt mir noch in der Speisröhre. Ich beschließe, es heute ruhig angehen zu lassen und ohne Gepäck nach Arcachon zu fahren, um mir die Stadt anzusehen. Während ich mich gestern noch auf Austern und Meeresfrüchte gefreut habe, kann ich heute nicht einmal an Essen denken, ohne dass mir übel wird.

Endlich am Atlantik (c) Michael Kneffel

Mit  einigen Abstechern durch die kleinen Austernhäfen am Wege folge ich der D 650 nach Westen. Es ist sehr warm und soll in den nächsten Tagen hochsommerlich heiß werden. Arcachon gefällt mir, und ich kann mir gut vorstellen, hier einmal Urlaub zu machen. Im Westen der Stadt, noch geschützt durch die vorgelagerte Landzunge mit dem Cap Ferret, liegt ein langer Sandstrand, der auf baumbestandenen, sehr gepflegten Rad- und Fußwegen zu erreichen ist. Wem die pralle Sonne auf dem Sand zu viel wird, kann sich hier auf einem kilometerlangen Wiesenstreifen unter große alte Bäume zurückziehen. In der Stadt sehe ich viele alte Villen aus der Zeit des Jugendstils. Es gibt viel zu entdecken in Arcachon, und ich finde es schade, dass Regine nicht bei mir ist.

schattige Plätze in Strandnähe (c) Michael Kneffel

Bei aller Begeisterung für die Stadt bleibt mir den ganzen Vormittag präsent, dass ich mich in einer schlechten Verfassung befinde. Ich beschließe, am Bahnhof nachzufragen, ob es am nächsten Tag eine Rückfahrmöglichkeit nach Essen gibt. Im Bahnhof ist mittags nichts los, und ich habe das Glück auf eine freundliche und kompetente Schalterbeamtin zu treffen, die 45 Minuten lang alle erdenklichen Verbindungen daraufhin überprüft, ob in den betreffenden Zügen eine Fahrradmitnahme möglich ist. Dabei wird sie zwischenzeitlich von vier Kolleginnen und Kollegen unterstützt. Schließlich bietet sie mir eine Verbindung mit nur drei Umstiegen in Bordeaux, Paris und Karlsruhe an. Das ist besser als alles, was ich vor meinem Tourbeginn im Internet und per Telefon in Erfahrung bringen konnte – damals allerdings für die Strecke Montpellier – Essen. Ich überlege nicht lange und zahle für die Fahrkarte mit allen nötigen Reservierungen 286,90 Euro. Ein Wermutstropfen bei der Sache ist, dass ich am nächsten Morgen um 5:43 Uhr in Biganos starten muss. Ankunft in Essen ist um 19:57 Uhr.

Durch eine beachtliche Hitze, immer noch mit Pflastersteinen im Bauch und Würgreiz in der Kehle fahre ich zum Campingplatz zurück. Unterwegs trinke ich gegen den Durst einen Liter Trinkjoghurt mit Himbeeren aus einer Lidl-Kühltheke. Das hätte ich nicht tun sollen, weil es mir von da an heftig in den Gedärmen rumort und neben dem Käsepizzageschmack jetzt auch noch ständig das Himbeeraroma hoch kommt. Zurück auf dem Campingplatz baue ich im Schneckentempo mein Zelt ab, bepacke mein Rad und ziehe um in das Hotel „Terminus“ unmittelbar neben den Bahnhof. Als ich mein Gepäck endlich auf dem Zimmer habe, bin ich fix und fertig und lege mich frierend und mit den Zähnen klappernd ins Bett. Ich schlafe sehr schlecht, werde alle 30 Minuten wach und entleere mich mehrmals.

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 15

15. Tag, Sonntag, 22.05.2011, Chatelleraut – Poitiers, Bordeaux – Biganos, 78 km, 8:30 -18:30 Uhr

Die Nacht blieb trocken. Ich stehe um 6:30 Uhr auf, muss warten, bis das Sanitärgebäude aufgeschlossen wird, und starte um 8:30 Uhr. Meine bärtigen Nachbarn in den langen Gewändern beenden in der hintersten Ecke des Platzes gerade ihre Morgengebete. Es ist kühl, der Wind bläst kräftig von vorn, und ich komme kaum voran. In Cenonne-sur-Vienne überquere ich den Fluss und fahre auf dem Westufer des Clain auf Poitiers zu. Die Reifen scheinen an der Straße zu kleben. Jeder Hügel wird zur Qual. Selbst bergab habe ich das Gefühl, kräftig treten zu müssen, um nicht stehen zu bleiben. In meinen Reifen ist viel zu wenig Luft, aber mit meiner Handpumpe bekomme ich nicht mehr hinein. Von den erfolglosen Versuchen schmerzt jetzt auch noch meine linke Schulter. Nach zwei Stunden Fahrt bin ich völlig platt und demoralisiert. Kurz vor Poitiers schließen drei niederländische Radpilger im Rennfahreroutfit auf, die auf dem Weg nach Santiago bzw. Lourdes sind. Wir plaudern kurz miteinander, ich beschreibe mein Reifenproblem, sie halten sofort an, und pumpen mir die Reifen mit ihren Hochleistungspumpen auf. Danach läuft das Rad deutlich besser, trotzdem überholen mich bald ziemlich flott zwei der Radpilger vom letzten Campingplatz. Mir schwant, dass ich am Ende meine Kräfte bin. Zu wenig und zu unregelmäßig gegessen. Keine richtigen Regenerationspausen. Schließlich noch die viel zu weichen Reifen. Von Poitiers bis zur Atlantikküste, meinem nächsten Ziel, würde ich drei Tage lang durch hügeliges Gelände fahren müssen. In meinem jetzigen Zustand schaffe ich das nicht. Ich habe aber auch keine Lust, in dieser Gegend und womöglich auf ähnlichen Campingplätzen wie in Chatelleraut mehrere Tage zu pausieren, um meine Akkus wieder aufzuladen.

Als ich mittags die Stadt erreiche, steuere ich sofort den Bahnhof an und löse ein Ticket samt Reservierungen für mich und mein Rad im TGV nach Bordeaux, Abfahrt 12:48 Uhr, Ankunft 14:39 Uhr. Zwei Fahrstühle, in die ich mit knapper Not das Rad bekomme, bringen mich auf meinen Bahnsteig. Treppen hätte ich mit dem schweren Rad nicht steigen wollen und auch nicht können. Das Fahrradabteil befindet sich in Wagen 11 direkt hinter dem Triebwagen. Zwei Stufen bis in den Wagen, dann noch einmal zwei Stufen bis ins Abteil. Für das Rad müssen 4 Sitze unter einem Fenster hochgeklappt werden. Maximal zwei unbeladene Räder dürfen dort abgestellt werden. Ein Rennrad steht schon dort. Sein Besitzer hilft mir, meinen Lastesel mit Gurten zu befestigen. Ich lasse das Gepäck am Rad, ohne dass es irgendjemanden stört. Meine erste Fahrt in einem TGV hatte ich mir schneller vorgestellt. Der Zug braucht fast 2 Stunden für gute 200 km.

In Bordeaux kann ich den Bahnsteig komfortabel über eine lange Rampe verlassen. Aus der Bahnhofshalle im Untergeschoss gelange ich über die Tiefgarage ins Freie.  Ich suche auf dem Vorplatz einen Stadtplan, finde nichts, auch nicht das Touristenbüro, das hier irgendwo sein soll und von dem ich mir Übersichtskarten mit den Radwegen der Region erhofft hatte. Also orientiere ich mich an der Sonne und setze mich Richtung Westen in Bewegung. Mein Ziel ist das Becken von Arcachon am Atlantik, ungefähr 40 Km entfernt. Bordeaux ist keine Kleinstadt. Bis zur Stadtgrenze durchquere ich große und wenig attraktive Vororte. In einem mache ich Pause und esse ein Sandwich. Ab hier muss ich auf der N 250 nur noch immer geradeaus fahren. Normalerweise meide ich diese großen Nationalstraßen, aber hier gibt es weit und breit keine Alternative. Auf dem glatten Asphalt und mit der Unterstützung von Traubenzucker komme ich gut voran. Kurz nach 18:00 Uhr erreiche ich Biganos und finde einen kleinen Campingplatz am Rand des Ortes, an der Straße nach Audenge. Der Platz macht einen guten Eindruck, befindet sich aber noch im Vorsaisonschlaf. Nur die ausgehungerten Riesenmücken sind hellwach und stürzen sich auf mich. Eine einzige Toilette ist geöffnet, auch die meisten Duschen und Waschkabinen sind noch verschlossen. Ich baue in der Nähe von einem älteren niederländischen Paar auf, das den Santiago-Pilgerweg in umgekehrter Richtung befährt. Als das Zelt steht und ich geduscht bin, gehe ich in die zum Platz gehörende Bar, wo ich der einzige Gast bin. Mein Hunger hält sich in Grenzen, aber um den Abend zu füllen, esse ich eine dick mit vier Käsesorten belegte Pizza und trinke dazu zwei Bier. Ich bin glücklich, wieder im Flachland zu sein, am nächsten Tag den Atlantik zu sehen, weiß aber noch nicht, wie es dann weitergehen soll. Nach meiner ursprünglichen Planung wollte ich weiter nördlich auf die Küste treffen und sie südlich von Arcachon wieder verlassen, um dann durch das schöne Waldgebiet der „Landes“ Richtung Canal du Midi zu fahren. Auf diesen Abschnitt der Tour hatte ich mich besonders gefreut. Aber heute habe ich gemerkt, dass ich mit meinen Kräften am Ende bin und dringend eine Pause benötige.

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 14

14. Tag, Samstag, 21.05.2011, Chinon – Chatelleraut, 72 km, 8:30 – 17:00 Uhr

Um 4:00 Uhr werde ich wach. Einige Leute unterhalten sich lange laut und aufgeräumt in meiner Nähe. Es klingt, als sei der Platz-Manager dabei. Nach zwei Wochen Radtour weiß ich, dass jemand, der mal in Ruhe durchschlafen möchte, nicht im Zelt auf einem Campingplatz übernachten sollte. Um 6:30 Uhr stehe ich auf, zwei Stunden später fahre ich los, kaufe im Ort zwei Karten für die Gegend um Poitiers, versorge mich beim Bäcker und quäle mich die üble Steigung in die Oberstadt hinauf. Dort frühstücke ich und mache mich dann auf die Suche nach dem Fahrradladen, den ich schließlich am Rande des Gewerbegebietes finde. Innerhalb einer Stunde bekomme ich zwei neue Mäntel aufgezogen, diesmal von Continental, deutlich breiter als die bisherigen und mit mehr Profil, aber ich bin froh, in diesem kleinen Ort überhaupt eine gute Werkstatt und passende Ersatzteile gefunden zu haben. Der Mechaniker ist der Meinung, dass zu hoher Druck dem alten Reifen zum Verhängnis geworden ist. In die neuen gibt er mir nur 3 bar Druck und meint, das sei ausreichend. Für die Reparatur zahle ich 50 Euro.

Wieder unten in der Stadt angekommen, sehe ich dass es einen kostenlosen Aufzug für Fußgänger und Radfahrer in die Oberstadt gibt. Ich verlasse die Stadt auf dem Nordufer der Vienne, finde das Fahren reichlich mühsam und schiebe das auf den heftigen Wind, die hohen Temperaturen und den höheren Rollwiderstand der neuen Reifen. In L´Ile Bouchard esse ich früh und miserabel zu Mittag. Das Restaurant sah einladend aus, aber was auf den Teller kommt, stammt wahrscheinlich aus der Kühltheke des billigsten Supermarkts der Gegend. Fürchterlich. Auf der anderen Seite des Flusses geht es weiter bis Dangé-St-Romain. Die Straße ist topfeben, meine Durchschnittsgeschwindigkeit ist trotzdem niedriger als an allen Tagen zuvor. Im Ort treffe ich vor einer Bar vier niederländische Radpilger aus der Gegend von Nijmegen, von denen einer einen Platten flickt. In 14 Tagen sind sie wie ich um die 1100 km gefahren, allerdings auf der „offiziellen“ Pilgerroute. Nach einem großen Café au lait und einem Erdbeertörtchen aus der gegenüberliegenden Bäckerei läuft es bei mir wieder besser. Ich nehme mir vor, in Chatellerault zu übernachten, dort soll es einen Campingplatz geben. Die Stadt ist allerdings alles andere als einladend. Mein Verdacht ist, dass sich das berühmte, ungefähr 20 km entfernte Poitiers aller sozialen und städtebaulichen Probleme, die den Tourismus stören könnten, in Chatelleraut entledigt hat. Nach längerer Suche finde ich den Campingplatz hinter einem Gewerbegebiet am Südostrand der Stadt, an einer Bahnlinie mit viel Güterverkehr. Auf dem Platz begegnen mir zunächst 15 bis 20 junge Männer mit langen Bärten in weißen Gewändern, die ich für strenggläubige Muslime halte. Weiter hinten auf dem Platz spielt eine Gruppe junger Männer mit nordafrikanischen Wurzeln Fußball. Ständig kommen und gehen Jugendliche, die ganz offensichtlich nicht auf dem Platz wohnen. Daneben scheint es junge Familien mit mehreren Kindern zu geben, die hier dauerhaft beheimatet sind. Ich fühle mich wie ein Fremdkörper und bin froh, dass nach mir noch drei niederländische Radpilger ihre Zelte aufbauen. Später kommt ein belgischer Fußpilger mit Hund dazu. Als mein Zelt steht, meine Sachen gewaschen sind und ich geduscht bin, fahre ich zu einem großen Carrefour-Supermarkt in der Nähe und kaufe etwas zu essen und zu trinken ein. Während meines abendlichen Picknicks unterhalte ich mich mit den Pilgern. Über den Himmel ziehen dunkle Gewitterwolken, aus der Ferne ist Donner zu hören, es bleibt aber trocken.

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 13

13. Tag, Freitag, 20.05.2011, Amboise – Chinon, 79 km, 10:30 – 16:30 Uhr

Die Tauben im Baum über mir machen mich sehr früh wach. Ich schlafe dann aber doch noch mal tief und fest ein und komme erst spät wieder auf den Sattel, nachdem ich noch 6 Euro für die Übernachtung bezahlt habe. Bis Tours sind es keine 20 km auf der D 751. Ich erhoffe mir von der Stadt ein gutes Frühstück, stelle dann aber fest, dass sich die eigentlich schöne Innenstadt von Tours seit meinem letzten Besuch vor etwa 30 Jahren zwar zu einer riesigen Fress-Meile entwickelt hat, ein einfaches Frühstück mit einem Milchkaffee und Croissants finde ich aber nicht. Es gibt jede Menge Restaurants, dazu alle Arten von Fast-Food. Kein Meter Hausfassade, vor dem nicht Tische und Stühle stehen. Es ist gar nicht so einfach, mit dem vollen Rad durch die Fußgängerzone zu schieben, da auch hier große Touristengruppen unterwegs sind und wie Schafherden die Straßen blockieren. Eine amerikanische Gruppe wird von einem singenden Stadtführer angeführt. Drei Border-Collies wären wesentlich sinnvoller. Was ist aus dieser Stadt geworden? Am Rande der Innenstadt finde ich schließlich doch noch einen Bäcker, esse auf einer Bank am Flussufer, fahre schnell weiter und trinke meinen Kaffee erst viel später, weit außerhalb der Stadt.

Ab Savonnières fahre ich bei sommerlichen Wetter und weiterhin kräftigem Westwind auf der D 7 weiter und genehmige mir meine zweite Portion Energie-Gel, als ich merke, dass meine körpereigenen Reserven zur Neige gehen. In Huismes verlasse ich die Loire, erspare mir den Anblick des nächsten AKW und schwenke nach Süden, Richtung Chinon. Damit ist auch die Entscheidung getroffen, nicht dem Fluss bis zur Küste zu folgen, sondern, wie anfangs geplant, über Poitiers weiter nach Süden zu fahren. Rummel und Verkehr an der Loire sind mir einfach zu viel. Ich möchte wieder in ländlichere, ruhigere Gegenden, auch wenn ich dafür einige Hügel in Kauf nehmen muss. Mit den Hügeln geht´s auch sofort los. Zum Stadtrand von Chinon geht es stramm bergauf, um dann sofort wieder steil nach unten ins Zentrum und an das Ufer der Vienne zu gehen.

Der Campingplatz liegt sehr schön auf dem anderen Ufer, seine Atmosphäre ist familiär. Meine Nachbarn, ein älterer Herr und seine noch ältere Mutter stammen nach dem Autokennzeichen aus Paris und sehen so aus, als würden sie schon seit 30 Jahren auf genau demselben Rasenstück Urlaub machen. Jeder scheint hier jeden zu kennen. Außerhalb des Platzes, unmittelbar am Wasser, habe ich bei der Anfahrt eine improvisierte, gut besuchte Freiluft-Guingette gesehen. Alles wirkt sehr idyllisch, und ich fühle mich wieder wohler als an der Loire. Der Schreck kommt, als ich nach dem Zeltaufbau, der Wäsche und dem Duschen mein Rad genauer betrachte. Am Vorderreifen hat sich ein etwa 20 cm langer Abschnitt verformt. Die Lauffläche geht dort auseinander wie eine Fleischwurst in heißem Wasser. Mit diesem Reifen werde ich nicht mehr weit kommen. Das Hinterrad sieht intakt aus, allerdings ist das Profil noch stärker abgefahren als vorne. Ich frage nach einem Fahrradladen und höre zu meiner Erleichterung, dass es tatsächlich einen im Ort geben soll, allerdings ungefähr dort, wo vorhin meine rasende Abfahrt begonnen hat. Nach 21 Jahren hat auch ein Schwalbe-Marathon-Reifen jedes Recht, den Geist aufzugeben, ich werde aber den Verdacht nicht los, dass es gar nicht am Alter gelegen hat, sondern an einem viel zu hohen Luftdruck aus einer englischen Profi-Pumpe.

Am Abend sehe ich mir die volle Guingette aus der Nähe an, laufe auf der Brücke in Richtung Ortskern, sehe schon von weitem, dass die Bürgersteige hochgeklappt sind, drehe wieder ab, esse in einem unscheinbaren Lokal an der Brücke ein gutes Omelette und ein Eis, unterhalte mich nett mit der Lokalbesitzerin, die schon dabei war den Laden zu schließen und sich über die späte Einnahme freut. Wie sich herausstellt, ist sie vor Jahren mit ihrem Mann aus Paris an die Vienne gezogen und kann sich heute nicht mehr vorstellen, im Lärm der Hauptstadt zu leben.

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 12

12. Tag, Donnerstag, 19.05.2011, Bracieux – Amboise, 51 km, 12:00 – 16:00 Uhr

Gehe früh in den Ort, um zu frühstücken, mir den Markt anzusehen und Reinigungsmittel für das Zelt zu kaufen. Der Markt ist winzig. Im Hochsommer wird hier wahrscheinlich mehr los sein. Zurück auf dem Campingplatz leihe ich mir einen Eimer und wasche erst das Zelt. Danach nehme ich mir gründlich das Rad vor. Im Laufe des Vormittags leert sich der Platz fast völlig, und da im Ort auch nicht gerade viel los war, packe ich doch noch meinen Kram zusammen und verlasse den Platz kurz vor 12:00 Uhr. Nach einem netten Plausch mit dem Leiter des Touristenbüros von Bracieux fahre ich durch das Hinterland der Loire auf kleinen Straßen nach Westen. Am Straßenrand kaufe ich mir als Mittagessen eine Schale Erdbeeren „vom Erzeuger“, die großartig schmecken. Über Villesavin, Celettes und Les Montils erreiche ich in Candé-Beuvron wieder das Ufer des Flusses. Auf der D 751 fahre ich ziemlich flott neben der Loire. Einige Versuche, auf dem Radweg zu fahren, breche ich bald wieder ab. Zu mühsam. Entweder ist der Belag schlecht oder der Weg führt vom Ufer weg auf die Höhen über dem Fluss. Links neben der Straße geht es meist senkrecht nach oben. In den Felswänden gibt es viele Höhlen, in denen Restaurants, Weinkeller oder Verkostungsstände von Weinbauern untergebracht sind.

Am Nachmittag wird es ordentlich warm. Heute fühle ich mich bald schlapp und greife zu einer von zwei Portionen Maxim Energie-Gel, konzentrierte Kohlenhydrate und Mineralien, die mir ein Freund kurz vor der Fahrt noch als Notreserve mitgegeben hat. Das Zeug geht tatsächlich sofort ins Blut und katapultiert mich nach Amboise. Im Ort und vor seinem eindrucksvollen Schloss geht es zu wie in der Rüdesheimer Drosselgasse. Bustouristen aller Nationalitäten werden in 50er Trupps von Reiseleitern mit hochgehaltenen Regenschirmen durch die Gassen geschleust. Geschäfte und Bäckereien finde ich keine, dafür ein Restaurant neben dem anderen. Der Trubel geht mir schnell auf die Nerven, und ich fahre auf die Nordseite des Flusses, wo ich tatsächlich eine offene Bäckerei finde und mir ein belegtes Baguette kaufen kann.

Blick vom Campingplatz auf Amboise (c) Michael Kneffel

Der große, komfortable und für diese Jahreszeit schon gut besuchte Campingplatz liegt auf einer Insel im Fluss. Ich baue mein Zelt auf, wasche meine Klamotten, dusche und mache mich noch einmal auf in den Ort, wo ich eine nette Bar à Vin finde und zu einem leckeren Sauvignon einen herzhaften Salat bekomme, was mich wieder einigermaßen mit der Stadt versöhnt.