Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 17

17. Tag, Dienstag, 24.05.2011, Biganos – Essen, 5:30 – 20:30 Uhr

Um 5:30 Uhr schiebe ich mein Rad zum Bahnhof. Alles, was ich nicht mehr brauche, wie Sonnencreme, Insektenspray usw., lasse ich im Hotel, um Gewicht zu sparen. Zu meiner Überraschung herrscht auf dem Bahnsteig Hochbetrieb. Neben vielen Pendlern wartet schon eine ganze Schulklasse, begleitet von den Eltern, auf den Regionalzug nach Bordeaux. Ohne Mühe bekomme ich das Rad in den Wagen, der durch ein winziges Fahrradsymbol neben der Tür gekennzeichnet ist.

In Bordeaux habe ich 16 Minuten für den Umstieg. Wie es scheint, sind alle anderen Bahnsteige leicht über eine lange Rampe zu erreichen, nur nicht der Bahnsteig 1, auf dem mein TGV abfahren wird. Ich habe die Wahl zwischen einer steilen Treppe und einer ebenso steilen Rolltreppe, entscheide mich für die Rolltreppe, kann nach wenigen Metern das Rad nicht mehr halten, falle rückwärts die Treppe hinunter, bin sofort wieder auf den Beinen, fühle mich eine Weile wie ein Hamster im Laufrad, komme nicht von der Stelle, da mein Rad immer wieder die Stufen hinunter rollt, bis eine junge Frau von hinten meine Rad festhält und ich mich endlich samt Rad aufwärts bewege. Zum Glück ist hinter mir niemand zu Schaden gekommen. Ich bin etwas zerkratzt und habe ein Loch im Hosenbein, als ich auf dem Bahnsteig ankomme. Das Radabteil ist wieder im Wagen 11 hinter dem Triebwagen untergebracht. Mit letzter Kraft und schließlich sogar auf den Knien wuchte ich das Rad die Stufen hoch in den Wagen. Im Eingangsbereich steht ein kräftiger Mann Mitte 30, der mir freundlich lächelnd zusieht, aber keine Hand rührt. „Was für ein Riesenarschloch“, sage ich laut und vernehmlich, als ich auch noch die beiden Stufen in´s Abteil geschafft habe und mein Rad befestige. Die gut dreistündige Fahrt nach Paris zum Bahnhof Montparnasse verläuft ruhig. Mir ist kalt, die Gedärme halten still, ich traue mich nicht, irgendetwas zu essen oder zu trinken. Mitunter fahren wir durch Gebiete, durch die ich Tage zuvor geradelt bin. Beim Aussteigen sehe ich den Mann wieder, der mir nicht geholfen hat, diesmal mit einem Blindenhund.

Für die Fahrt zur Gare de l´Est, wo mein nächster Zug um 11:24 abfahren wird, habe ich zum Glück fast zwei Stunden. Außerhalb des Bahnhofs empfangen mich ein lausiger Wind und ein gewaltiges Verkehrschaos. Paris ersäuft im Autoverkehr. Immer wieder muss ich meine eigentliche Richtung aufgeben und Haken schlagen, weil nichts mehr voran geht und ich selbst mit dem Rad nicht durch komme. Meine Beine sind wie Pudding, für den Weg durch die Stadt brauche ich fast eine Stunde und bin froh, als ich endlich frierend und klapprig den Bahnhof erreiche.

In den TGV nach Karlsruhe komme ich mit der Hilfe eines Mitreisenden problemlos. Der Zug ist nahezu ausgebucht, und ein Mann, der, wie ich später feststelle, bei der französischen Bahngesellschaft beschäftigt ist, macht mich an, weil ich mit meinem Rad nach seiner Meinung zu viel Platz beanspruche. Der Zugbegleiter hat dagegen nichts zu beanstanden, daraufhin lässt der achtsame Bahnmitarbeiter von mir ab und konzentriert sich mit seinem Kollegen in den folgenden zweieinhalb Stunden ganz darauf, Sitze und Fußboden mit Essensresten und Verpackungsmüll voll zu sauen. In Straßburg leert sich der TGV fast völlig aus.

Auf dem Bahnhof in Karlsruhe, wo es einen geräumigen Aufzug auf jedem Bahnsteig gibt, habe ich viel Zeit für den Umstieg in den Euro-City, der mich nach Essen bringen wird. Es ist so warm wie in Arcachon, und unter dem Glasdach veranstalten tatsächlich einige Grillen ihr lautes Konzert. In den Minuten vor Abfahrt meines Zuges füllt sich der Bahnsteig enorm. Es tauchen weitere Radtouristen mit vollbepackten Rädern auf, und mir wird etwas mulmig, weil ich nicht weiß, wie viel Platz für Fahrräder der Zug bietet. Es passen aber alle problemlos in den dafür gedachten Wagen, der nur zu zwei Dritteln wie ein Großraumwagen bestuhlt ist und im restlichen Drittel Befestigungsmöglichkeiten für Räder und Rollstühle bietet. Da ich nicht mehr umsteigen muss, traue ich mich, eine Salzbrezel zu essen und eine Fanta zu trinken. Alles bleibt drin, und ich kann die Fahrt durch das Rheintal genießen.

Pünktlich um 19:57 Uhr komme ich in Essen an. Regine erwartet mich und hilft mir beim Aussteigen. Zu Hause angekommen friere ich wieder, lege mich kurz in die heiße Badewanne, falle danach in´s Bett und schlafe, unterbrochen durch ein gemeinsames Frühstück, bis zum nächsten Mittag durch. Zwei Tage lang, in denen ich mehr Gewicht verliere als auf der gesamten Radtour, hat mich noch der Darmvirus im Griff. Ich bin heilfroh, dass ich diese Tage nicht in meinem Zelt in Biganos verbringen muss.

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 16

16. Tag, Montag, 23.05.2011, Biganos – Arcachon – Biganos, 65 km,  9:30 -18:30 Uhr

Als ich aufwache, ist mir schlecht, und ich würde mich am liebsten übergeben. Die Käsepizza vom Vorabend ist mir anscheinend überhaupt nicht bekommen und hängt mir noch in der Speisröhre. Ich beschließe, es heute ruhig angehen zu lassen und ohne Gepäck nach Arcachon zu fahren, um mir die Stadt anzusehen. Während ich mich gestern noch auf Austern und Meeresfrüchte gefreut habe, kann ich heute nicht einmal an Essen denken, ohne dass mir übel wird.

Endlich am Atlantik (c) Michael Kneffel

Mit  einigen Abstechern durch die kleinen Austernhäfen am Wege folge ich der D 650 nach Westen. Es ist sehr warm und soll in den nächsten Tagen hochsommerlich heiß werden. Arcachon gefällt mir, und ich kann mir gut vorstellen, hier einmal Urlaub zu machen. Im Westen der Stadt, noch geschützt durch die vorgelagerte Landzunge mit dem Cap Ferret, liegt ein langer Sandstrand, der auf baumbestandenen, sehr gepflegten Rad- und Fußwegen zu erreichen ist. Wem die pralle Sonne auf dem Sand zu viel wird, kann sich hier auf einem kilometerlangen Wiesenstreifen unter große alte Bäume zurückziehen. In der Stadt sehe ich viele alte Villen aus der Zeit des Jugendstils. Es gibt viel zu entdecken in Arcachon, und ich finde es schade, dass Regine nicht bei mir ist.

schattige Plätze in Strandnähe (c) Michael Kneffel

Bei aller Begeisterung für die Stadt bleibt mir den ganzen Vormittag präsent, dass ich mich in einer schlechten Verfassung befinde. Ich beschließe, am Bahnhof nachzufragen, ob es am nächsten Tag eine Rückfahrmöglichkeit nach Essen gibt. Im Bahnhof ist mittags nichts los, und ich habe das Glück auf eine freundliche und kompetente Schalterbeamtin zu treffen, die 45 Minuten lang alle erdenklichen Verbindungen daraufhin überprüft, ob in den betreffenden Zügen eine Fahrradmitnahme möglich ist. Dabei wird sie zwischenzeitlich von vier Kolleginnen und Kollegen unterstützt. Schließlich bietet sie mir eine Verbindung mit nur drei Umstiegen in Bordeaux, Paris und Karlsruhe an. Das ist besser als alles, was ich vor meinem Tourbeginn im Internet und per Telefon in Erfahrung bringen konnte – damals allerdings für die Strecke Montpellier – Essen. Ich überlege nicht lange und zahle für die Fahrkarte mit allen nötigen Reservierungen 286,90 Euro. Ein Wermutstropfen bei der Sache ist, dass ich am nächsten Morgen um 5:43 Uhr in Biganos starten muss. Ankunft in Essen ist um 19:57 Uhr.

Durch eine beachtliche Hitze, immer noch mit Pflastersteinen im Bauch und Würgreiz in der Kehle fahre ich zum Campingplatz zurück. Unterwegs trinke ich gegen den Durst einen Liter Trinkjoghurt mit Himbeeren aus einer Lidl-Kühltheke. Das hätte ich nicht tun sollen, weil es mir von da an heftig in den Gedärmen rumort und neben dem Käsepizzageschmack jetzt auch noch ständig das Himbeeraroma hoch kommt. Zurück auf dem Campingplatz baue ich im Schneckentempo mein Zelt ab, bepacke mein Rad und ziehe um in das Hotel „Terminus“ unmittelbar neben den Bahnhof. Als ich mein Gepäck endlich auf dem Zimmer habe, bin ich fix und fertig und lege mich frierend und mit den Zähnen klappernd ins Bett. Ich schlafe sehr schlecht, werde alle 30 Minuten wach und entleere mich mehrmals.