04. Tag, Mittwoch, 11.05.2011, Sclayn – Labuissière, 95 km, 8:45-18:00 Uhr
Ich starte bei kühlen Temperaturen und deutlichem West-/ Gegenwind, der mir bis zum Abend treu bleibt. Zuvor hat mir mein Gastgeber noch versichert, dass es einen guten Uferradweg bis Charleroi, meinem nächsten Etappenziel geben werde. Meine Radhose und mein Hinterteil habe ich heute mit Vaseline und der besagten Hirschtalg-Creme präpariert. Bis zum Ende der Tour schützt mich dieses tägliche Verfahren weitestgehend vor neuen Problemen.

am Zusammenfluss von Meuse und Sambre in Namur, (c) Michael Kneffel
Anfangs an der Maas, die in Belgien Meuse heißt, ist der Weg tatsächlich prima. Im hübschen Namur überquere ich den Fluss und fahre am Südufer der Sambre weiter, die hier unterhalb der mächtigen Vauban-Festung einmündet. Mit dem guten Radweg ist es schnell vorbei. Ohne Vorankündigung ist der Weg plötzlich wegen einer Baustelle völlig gesperrt. Ich fahre auf der Landstraße weiter, versuche es später noch einmal mit dem Uferweg und stehe kurz darauf vor der nächsten Vollsperrung ohne Vorwarnung. Schade, denn die Sambre windet sich hier wirklich sehr schön durch die Landschaft. Also fahre ich auf der Landstraße weiter, die den Fluss begleitet und muss sofort einige Steigungen nehmen. Bei Arsimont stehe ich plötzlich vor einer autobahnähnlichen Schnellstraße. Keine Überführung, keine Unterführung. Einfach Ende meiner Straße. Ein radelndes Paar steht ebenso irritiert wie ich vor diesem Hindernis und fährt dann wieder zurück. Ich warte eine große Lücke im Verkehr ab und schiebe schließlich mein Rad so schnell wie möglich auf die andere Seite, wo meine Landstraße sich fortsetzt. Es wird deutlich wärmer, allmählich wieder industrieller, und ich beschließe, nicht mehr jeder Windung der Sambre zu folgen, sondern direkt über Pont-de-Loup den Süden von Charleroi anzusteuern. So wie hier hat das Ruhrgebiet vor 30 Jahren etwa in der Emscherregion ausgesehen. Potthässlich. Auf staubigen Straßen, die sich in einem fürchterlichen Zustand befinden, nähere ich mich weiter der Stadt von Südosten. Am Ende finde ich wieder einen fahrbaren Uferweg, der mich an Schrottplätzen und Werksgeländen vorbei durch den Süden der Stadt führt. „Kindermördergegend“ hätte man früher im Ruhrgebiet zu einer solchen Gegend gesagt. Es wundert mich nicht, dass mir hier plötzlich auf dem Radweg ein Streifenwagen der Polizei entgegen kommt.
Mein Uferweg endet abrupt unter einer Brücke im Innenstadtbereich und entlässt mich in eine Gegend, die ausschließlich von Menschen mit nordafrikanischen Wurzeln bewohnt zu sein scheint. Ich fahre einfach in Richtung Westen weiter, hilfreiche Straßenschilder kann ich nirgendwo entdecken, gelange zur Großbaustelle vor dem Südbahnhof der Stadt, frage einige Passanten, um mich zu vergewissern, dass ich noch auf dem richtigen Kurs bin, und verlasse den Innenstadtbereich auf einer großen Ausfallstraße. Was ich von Charleroi gesehen habe, war scheußlich und angetan, mich auf dem schnellsten Wege wieder aus der Stadt zu treiben. An einer Tankstelle mache ich eine späte Mittagspause, esse zwei Sandwichs und trinke etwas aus der Kühltheke. Danach geht es kilometerweit schnurgeradeaus und leider auch stetig bergauf.
Seit dem Vortag habe ich in meinem linken Auge ein Fremdkörpergefühl, das immer unangenehmer wird. Staub und Straßendreck sind auf dem besten Weg, eine Bindehautentzündung zu verursachen. Ich stoppe an einer Apotheke, kaufe gegen die Reizung Augentropfen, die nach einigen Stunden wirken, und erfahre vom freundlichen Apotheker, dass ich die falsche Ausfallstraße erwischt habe und noch weiter nach Westen muss. Der Apotheker lässt leider auch keinen Zweifel daran, dass ich auf dem Weg zu „meiner“ Straße zwei ganz üble Steigungen nehmen muss. Ich folge seiner Wegbeschreibung und stelle fest, dass er nicht übertrieben hat. Mein Herz schlägt hart, ich schnappe nach Luft und muss zum ersten Mal auf meiner Tour kurz vor dem Ende der Steigung aus dem Sattel und schieben. Nach einer rasenden Abfahrt kommt die nächste Steigung gleichen Kalibers, dann wieder eine heftige Abfahrt und ich erreiche erneut die Sambre, bei Montigny.

schöner Ort für eine Pause, das „La Guinguette“ an der Sambre, (c) Michael Kneffel
Hier beginnt nun der schönste Abschnitt meiner bisherigen Tour. Entlang der jetzt sehr idyllischen und stillen Sambre führt ein komfortabler Uferweg an mehreren kleinen Schleusen vorbei in langen Schleifen durch ein sattgrünes Bauernland. An der ersten Schleuse, in der Nähe der Ruine der Abbaye d´Aulne, genehmige ich mir im Restaurant „La Guingette“ eine Pause und einen Kaffee. Der Name gefällt mir. Guingettes hießen früher die beliebten einfachen Ausflugs- und Tanzlokale an den Ufern von Seine und Marne rund um Paris. Seit einiger Zeit sollen sie dort eine Renaissance erleben. In Belgien habe ich damit allerdings nicht gerechnet. Es wird langsam Zeit, nach einem Campingplatz Ausschau zu halten, und die Kellnerin ist sich sicher, dass es etwas außerhalb von Thuin, so heißt der nächste Ort am Fluss, einen kleinen Platz gibt. Nur in Thuin weiß leider kein Mensch davon, und ich setzte meine Fahrt an Lobbes und Fontaine-Valmont vorbei fort. Es ist jetzt offensichtlich die Stunde der Angler. Andere Menschen sehe ich nicht mehr. So spät am Tag war ich sonst nicht mehr unterwegs. Allmählich mache ich mich mit dem Gedanken vertraut, mein Zelt irgendwo in der freien Natur aufbauen zu müssen, als ich in einer Bar in Labuissière noch einmal nachfrage und ein Gast mir den Weg zu dem Campingplatz „La Cascade“ etwas außerhalb beschreibt.
Nach 18:00 Uhr erreiche ich heilfroh, noch was gefunden zu haben, den Platz und merke gleich, dass der etwas anders ist. Eine Ansammlung von Holzhütten in einem am Hang gelegenen Waldstück. Ich komme oben an einer großen Kindergruppe vorbei, die an einer Baracke spielt, die ich für eine Sanitäranlage im weitesten Sinne halte. Ein Teil der Kinder folgt mir bis unten, wo an einem Teich eine Kneipe liegt, und bombardiert mich mit Fragen. Ich frage meinerseits in der Kneipe nach einem Stellplatz und der Wirt kommandiert einen Gast ab, der mir ein Stück Wiese am Teich zuweist. Ich baue das vom Vortag immer noch nasse Zelt auf und mache mich auf die Suche nach den Waschräumen. Ein Junge auf einem Rad rät mir von den Sanitäranlagen ab, die seiner Meinung nach nicht besonders sauber sind. Ich bleibe hartnäckig und er weist mir schließlich den Weg zu einigen Holzhütten. Was ich aus der Entfernung sehe, reicht mir, um schnell wieder abzudrehen. Stattdessen gehe ich zur Kneipe, frage nach dem Preis für die Übernachtung, bekomme von der Chefin des Platzes zu hören, dass sie dafür nichts verlangt. Ich bedanke mich, stelle mich an den Tresen und bestelle erst mal ein Bier. Mit den heftig rauchenden Stammgästen komme ich schnell ins Gespräch, werde von neu Hinzukommenden herzlich und mit Handschlag begrüßt und ansatzlos in die Kneipenfamilie aufgenommen. Große Wandbilder mit Bergbauszenen machen mir klar, dass ich mich immer noch in einer Industrieregion befinde, die aber ihre besten Zeiten schon lange hinter sich hat. Mir kommt der Verdacht, dass die Bewohner des Platzes hier nicht nur ihre Freizeit verbringen, sondern tatsächlich wohnen. Ich esse noch einen Salat, gehe dann die Hütte oben am Hang inspizieren, die wie eine Sanitärbaracke aussah, entdecke eine Duschkabine mit Vorhängeschloss, frage einen älteren Herrn im weißen Bademantel, der entspannt vor einer der Nachbarhütten sitzt, nach der Dusche. Der ruft nach einer Frau in der Nachbarhütte. Ein Junge kommt heraus, hört sich den Fall an, verschwindet und kommt kurz darauf mit einem Schlüssel wieder. Für´s Duschen verlangt er 1,50 Euro. Ich bezahle, werde so doch noch den Staub und Schweiß des Tages los, gebe den Schlüssel zurück und ziehe mich in´s Zelt zurück. Damit ist der Tag aber noch nicht zu Ende. Aus gegebenem Anlass mache ich die Entdeckung, dass man übel riechende Sportschuhe und ihre Innensohlen nachhaltig mit Autan-Insektenspray desodorieren kann. Gegen hungrige Insekten aller Art hat mir das Zeug nicht geholfen, auf Sonnenbrand brennt es wie die Hölle, aber gegen Fußschweiß wirkt es wahre Wunder.
Immer, wenn ich nachts wach werde, und das passiert oft, kläfft ein Hund. Die Nacht ist wieder ziemlich kalt.
Gefällt mir:
Like Wird geladen …