Wenn sich im Sommer halb Paris auf den Weg in die Ferien macht, zieht es auch heute noch viele der Großstädter an die Küste des Ärmelkanals. Seinen Anfang nahm der Drang zum Meer vor gut zweihundert Jahren. Bis dahin wäre kaum ein Mensch auf die Idee gekommen, freiwillig ins Meer zu steigen. Selbst die Fischer an den Küsten waren Nichtschwimmer, und nichts war ihnen fremder als die Vorstellung, im Meer zu baden. Es waren die Bewohner der großen Städte und die Angehörigen der wohlhabenden Schichten, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die See und das Baden zu begeistern begannen. Neue Eisenbahnlinien an die Küste beförderten diese Entwicklung ungemein. Der Urlaub an der See sollte ein einziges buntes und fröhliches Fest werden. Diesen Anspruch sieht man vielen Villen an der Küste der Picardie noch heute an.
Vor über zwanzig Jahren hat uns der Charme der nordfranzösischen Küste und seiner Bewohner schon einmal gefangen genommen. Auf der Anreise zu einer Normandie-Fahrradtour machten wir bei scheußlichem Regenwetter nahe Wissant im Département Pas-de-Calais Station, in einem Gästehaus, das von einer älteren Dame geführt wurde. Vor dem strammen Seewind geschützt lag das alte Anwesen, völlig von Rosenhecken umgeben, in einer Mulde nahe der Steilküste. Unser stilvoll eingerichtetes Gästezimmer besaß eine erlesene Handbibliothek zum Thema Zen-Buddhismus, der Frühstückskaffee wurde in silbernen Kännchen serviert, und am Abend saßen alle Gäste des Hauses im Salon am Kamin zusammen, wo die Gastgeberin unaufdringlich und gekonnt die zusammengewürfelten Durchreisenden miteinander ins Gespräch brachte. Den Aufenthalt in diesem Haus „bei Madame“ haben wir nie vergessen, und trotzdem dauerte es sehr lange, bis wir wieder in den äußersten Norden Frankreichs zurückkehrten. Auslöser hierfür war die „Europäische Kulturhauptstadt“ Lille im Jahre 2004.
Begeistert von der lebendigen Stadt mit ihrer alten Bebauung und der jungen Bevölkerung hatten wir Lille in jenem Jahr schon drei Mal besucht. Beim vierten Besuch waren wir auch neugierig auf das Umland und die relativ nahe Küste. So kamen wir über Arras und Amiens schließlich nach Mers-les-Bains am äußersten Südzipfel der picardischen Küste. Fasziniert und erschrocken zugleich liefen wir durch den alten Badeort. Fasziniert wegen der vielen bunten Häuser mit verspielten Fassaden an der Strandpromenade und erschrocken wegen des völlig maroden Zustands ganzer Straßenzüge in der zweiten Reihe. Wind und Salz nagen hier beständig an den Fassaden. Wenn die Anstriche nicht regelmäßig erneuert werden, beginnt sehr schnell der Verfall. Heute sind die meisten Häuser in Mers-les-Bains wieder renoviert und bewohnt. Der Ort erstrahlt in neuem Glanz und zieht viele französische Sommergäste an.
Nähert man sich dem Ort mit dem Auto von Osten, vorbei an Kleinindustrie und Gewerbeansiedlungen, ahnt man auch nicht ansatzweise, welche architektonischen Schätze Mers-les-Bains in Strandnähe bietet. Nach der Fertigstellung der Eisenbahnlinie von Paris zum Nachbarort Le Tréport im Jahre 1873, wurde der Badeort in den Jahrzehnten der Belle Époque sehr systematisch auf der grünen Wiese errichtet. Wunderschöne Villen säumten bald die Promenade und die auf sie hinführenden Straßenzüge. Feriendomizile im anglo-normannischen, maurischen, flämischen und picardischen Stil schossen bis zur Jahrhundertwende aus dem Boden. Dazu kamen Häuser in Stilrichtungen, die mit den Namen der Regenten Louis XIII und Napoléon III verbunden werden, später dann Villen im typischen Stil der 30er Jahre. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde auch das große Hotel Bellevue an der Promenade gebaut, dessen Café und Restaurant sehr als Ausgangangs- oder Endpunkte für Streifzüge durch den Ort zu empfehlen sind.
(Fortsetzung folgt.)