Die Küste der Picardie 3 – entlang der Steilküste von Mers-les-Bain nach Bois-de-Cise

das Meer bei Mers-les-Bains im Winter (c) Michael Kneffel

Es ist kalt. Es ist  windig. Und es ist wunderbar. Wir stehen Ende Dezember hoch über dem Meer und schauen in ein konturloses Grau-Türkis, zu dem sich Wolken und Wasser verbunden haben. Nicht auszuschließen, dass wir in den nächsten Stunden noch Regen abbekommen werden. Aber egal. Eine der schönsten Unternehmungen an der Küste der Picardie und ein absolutes Muss bei jedem unserer Besuche ist die Wanderung von Mers-les-Bains nach Bois-de-Cise. Bei fast jedem Wetter.

Für die knapp vier Kilometer sollte man viel Zeit einplanen, zum einen wegen etlicher Höhenmeter, die zu überwinden sind, mitunter auf ziemlich steilen Wiesen, zum anderen wegen der grandiosen Aussicht, die einen immer wieder anhalten und einfach nur schauen lässt.

Steilküste zwischen Mers-les-Bains und Bois-de-Cise (c) Michael Kneffel

Beginnend an der Statue „Notre Dame de la Falaise“, die hoch oberhalb von Mers-les-Bains steht, führt ein spektakulärer Fußweg immer am Rand der Klippen entlang nach Bois-de-Cise.

Nur wenige Meter neben dem Fußweg geht es an manchen Stellen bis zu 100 Meter senkrecht abwärts. In den Kreidefelsen leben jede Menge Seevögel, die sich hier gut beobachten lassen und ihrerseits auch gern ein Auge auf die Wanderer werfen. Das Meer unterhalb der Felsen leuchtet vom ständig abbröckelnden und sich auflösenden hellen Kalkstein in einem fast unwirklich schönen Blau-Grün. Auf der anderen Seite des Weges erstrecken sich im Sommer anfangs große Getreidefelder, später satte grüne Weiden. Ab und zu muss ein Zaun an vorbereiteten Über- oder Durchgängen überwunden werden, und gelegentlich muss man eine Herde gutmütiger Rindviecher entweder durchqueren oder weitläufig umgehen – je nach Mentalität und Mut.

Villen in Bois-de-Cise (c) Michael Kneffel

Bois-de-Cise wurde ebenso wie Mers-les-Bains auf dem Reißbrett als Sommerfrische geplant und ab 1898 in relativ kurzer Zeit in einem bewaldeten, langen Tal erbaut, das sich zum Meer öffnet. Bis heute ist Bois-de-Cise eher eine Feriensiedlung, bestehend aus repräsentativen Belle-Époque-Villen, als ein lebendiger Ort mit entsprechender Infrastruktur. Außerhalb der Hauptsaison begegnet man hier nur wenigen Menschen, und es empfiehlt sich, ausreichend Verpflegung und Wasser für die Wanderung einzupacken. In den Hauptferienmonaten hat dagegen auch das Restaurant des Ortes geöffnet und gelegentlich findet ein Flohmarkt oder ein kleines Fest im Freien statt.

(Fortsetzung folgt.)

Die Küste der Picardie 2 – die bunten Häuser von Mers-les-Bains

Wenn sich im Sommer halb Paris auf den Weg in die Ferien macht, zieht es auch heute noch viele der Großstädter an die Küste des Ärmelkanals. Seinen Anfang nahm der Drang zum Meer vor gut zweihundert Jahren. Bis dahin wäre kaum ein Mensch auf die Idee gekommen, freiwillig ins Meer zu steigen. Selbst die Fischer an den Küsten waren Nichtschwimmer, und nichts war ihnen fremder als die Vorstellung, im Meer zu baden. Es waren die Bewohner der großen Städte und die Angehörigen der wohlhabenden Schichten, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die See und das Baden zu begeistern begannen. Neue Eisenbahnlinien an die Küste beförderten diese Entwicklung ungemein. Der Urlaub an der See sollte ein einziges buntes und fröhliches Fest werden. Diesen Anspruch sieht man vielen Villen an der Küste der Picardie noch heute an.

Villen in Mers-les-Bains (c) Michael Kneffel

Vor über zwanzig Jahren hat uns der Charme der nordfranzösischen Küste und seiner Bewohner schon einmal gefangen genommen. Auf der Anreise zu einer Normandie-Fahrradtour machten wir bei scheußlichem Regenwetter nahe Wissant im Département Pas-de-Calais Station, in einem Gästehaus, das von einer älteren Dame geführt wurde. Vor dem strammen Seewind geschützt lag das alte Anwesen, völlig von Rosenhecken umgeben, in einer Mulde nahe der Steilküste. Unser stilvoll eingerichtetes Gästezimmer besaß eine erlesene Handbibliothek zum Thema Zen-Buddhismus, der Frühstückskaffee wurde in silbernen Kännchen serviert, und am Abend saßen alle Gäste des Hauses im Salon am Kamin zusammen, wo die Gastgeberin unaufdringlich und gekonnt die zusammengewürfelten Durchreisenden miteinander ins Gespräch brachte. Den Aufenthalt in diesem Haus „bei Madame“ haben wir nie vergessen, und trotzdem dauerte es sehr lange, bis wir wieder in den äußersten Norden Frankreichs zurückkehrten. Auslöser hierfür war die „Europäische Kulturhauptstadt“ Lille im Jahre 2004.

frisch restaurierte Keramik an der Villa Pomone in Mers-les-Bains (c) Michael Kneffel

Begeistert von der lebendigen Stadt mit ihrer alten Bebauung und der jungen Bevölkerung hatten wir Lille in jenem Jahr schon drei Mal besucht. Beim vierten Besuch waren wir auch neugierig auf das Umland und die relativ nahe Küste. So kamen wir über Arras und Amiens schließlich nach Mers-les-Bains am äußersten Südzipfel der picardischen Küste. Fasziniert und erschrocken zugleich liefen wir durch den alten Badeort. Fasziniert wegen der vielen bunten Häuser mit verspielten Fassaden an der Strandpromenade und erschrocken wegen des völlig maroden Zustands ganzer Straßenzüge in der zweiten Reihe. Wind und Salz nagen hier beständig an den Fassaden. Wenn die Anstriche nicht regelmäßig erneuert werden, beginnt sehr schnell der Verfall. Heute sind die meisten Häuser in Mers-les-Bains wieder renoviert und bewohnt. Der Ort erstrahlt in neuem Glanz und zieht viele französische Sommergäste an.

Villen in Mers-les-Bains (c) Michael Kneffel

Nähert man sich dem Ort mit dem Auto von Osten, vorbei an Kleinindustrie und Gewerbeansiedlungen, ahnt man auch nicht ansatzweise, welche architektonischen Schätze Mers-les-Bains in Strandnähe bietet. Nach der Fertigstellung der Eisenbahnlinie von Paris zum Nachbarort Le Tréport im Jahre 1873, wurde der Badeort in den Jahrzehnten der Belle Époque sehr systematisch auf der grünen Wiese errichtet. Wunderschöne Villen säumten bald die Promenade und die auf sie hinführenden Straßenzüge. Feriendomizile im anglo-normannischen, maurischen, flämischen und picardischen Stil schossen bis zur Jahrhundertwende aus dem Boden. Dazu kamen Häuser in Stilrichtungen, die mit den Namen der Regenten Louis XIII und Napoléon III verbunden werden, später dann Villen im typischen Stil der 30er Jahre. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde auch das große Hotel Bellevue an der Promenade gebaut, dessen Café und Restaurant sehr als Ausgangangs- oder Endpunkte für Streifzüge durch den Ort zu empfehlen sind.

(Fortsetzung folgt.)

Zwischen Pierrefonds und Compiègne – 3. Teil

im Schlosspark von Compiègne (c) Michael Kneffel

Das am anderen Ende des großen Waldgebietes liegende Compiègne haben wir bei dem sehr instabilen Wetter dann doch lieber mit dem Auto als mit dem Rad besucht, und zwar gleich mehrmals. In der hübschen und lebendigen Kleinstadt mit vielen Verwaltungseinrichtungen und großem Theater hat uns besonders das Schloss angezogen. Von seiner rückwärtigen Terrasse führt die 4,5 Kilometer lange schnurgerade Allée des Beaux Monts durch Garten, Park und Wald bis zu einem Aussichtshügel, dem Ziel- und Wendepunkt vieler Spaziergänger und Jogger. Auf den weiten Wiesen des Parks lassen sich bei schönem Wetter nicht wenige Bürger der Stadt nieder und genießen die Natur.

Über das schöne Senlis führte unser weitester Ausflug zum rund 50 Kilometer entfernten Schloss von Chantilly, das mit dem Museum Condé die größte Sammlung alter Gemälde außerhalb des Louvre beherbergt.

Musée Condé im Schloss Chantilly (c) Michael Kneffel

Fast noch eindrucksvoller als das Schloss selbst sind die Pferdeställe seines Reitgestüts aus dem Jahr 1719, die größten und prächtigsten der Welt – auch olfaktorisch ein umwerfendes Erlebnis. Besser hat es uns dann doch im Restaurant des Schlosses gefallen, das in der alten Schlossküche untergebracht ist. Hier soll 1671 Francois Vatel, Haushofmeister und Koch des Prinzen von Condé, die berühmte Crème Chantilly erfunden haben. Alle Gerichte im Restaurant sollen nach Original-Rezepten Vatels zubereitet werden, der zu den bedeutendsten Küchenmeistern seiner Zeit zählte. Kann sein, dass heute noch seine Rezepte verwendet werden, dann aber von weniger begnadeten Köchen. Unser Essen war eher mittelmäßig und konnte mit dem historischen Ambiente nicht mithalten.

Abteiruine in Soissons (c) Michael Kneffel

Von Besuchen des östlich von Pierrefonds gelegenen Soissons wird in vielen Reiseführern zwischen den Zeilen eher abgeraten. Diese uralte und für die Geschichte Frankreichs wichtige Stadt lag im ersten Weltkrieg 80 Tage lang auf der heftig umkämpften Frontlinie. Dabei blieb kaum ein Stein auf dem anderen. Im Zuge des Wiederaufbaus hat sich um Soissons herum eine Menge Industrie und Gewerbe niedergelassen, was den Tourismus auch nicht gerade fördert. Einen Besuch wert sind jedoch allemal die Ruine der Abteikirche Saint-Jean-des-Vignes und das benachbarte Museum.

Zwischen Pierrefonds und Compiègne – 2. Teil

Aussichtspunkt im Wald von Compiègne (c) Michael Kneffel

Pierrefonds liegt am östlichen Rand des Walds von Compiègne, des drittgrößten Waldgebiets Frankreichs, ca. 80 Kilometer nördlich von Paris. Seit Louis XIV gibt es hier ein ausgedehntes Waldwanderwegenetz. Schnurgerade Wege durchziehen den wildreichen Mischwald. Wo sie zusammentreffen, weisen seit 1825 Schilder an hohen weißen Pfeilern den Weg. Verlaufen kann man sich hier kaum. Einige dieser Wege sind auch mit dem Rad befahrbar. Aber auch wer sich gerne etwas abenteuerlicher auf Trampelpfaden, kaum breiter als Wildwechsel, durch dichtes Unterholz und mannshohe Farne schlägt, kommt hier auf seine Kosten.

Wanderweg im Wald (c) Michael Kneffel

In den letzten Jahren sind asphaltierte Radstrecken dazu gekommen, nicht zuletzt ein etwa 26 Kilometer langer Radrundweg, der Pierrefonds und Compiègne ohne nennenswerte Steigungen verbindet und auch bei Skatern sehr beliebt ist. Im Wald und an seinen Rändern liegen malerische Dörfer, in deren Natursteinhäusern mit den typischen treppenartigen Giebelkanten nicht selten betuchte Pariser ihre Wochenenden verbringen. Umgeben ist der Wald im Norden, Osten und Süden von riesigen landwirtschaftlich genutzten Flächen, auf denen meistens Getreide angebaut wird. Im Sommer geben einem diese Felder ein Gefühl von Weite und Ruhe, wie es sich sonst nur am Meer einstellt.

Weizenfeld bei Retheuil (c) Michael Kneffel

Wer sich auch im Hochsommer gern bewegt, dabei aber der prallen Sonne und Hitze entgehen will, ist im Wald von Compiègne bestens aufgehoben. Das dachten wir uns jedenfalls, als wir unseren Urlaub planten. Nur gab es in diesem Sommer kaum Sonne und schon gar keine Hitze, dafür Regen wie aus Eimern und allenfalls herbstliche Temperaturen. An unserem kältesten Urlaubstag zeigte das Thermometer nie mehr als 12 Grad. Und das Mitte Juli!

In der entsprechenden Kleidung machten wir uns trotzdem täglich auf den Weg, anfangs zu Fuß, später als das Wetter etwas besser wurde, meistens auf dem Rad. In den tiefen Wald schienen bei dem miserablen Wetter nur selten Menschen zu kommen, so dass sich ausgehungerte Bremsen immer gleich in großen Mengen auf uns stürzten, was das Wandervergnügen etwas beeinträchtigte. Nach der ersten Woche waren wir aus gegebenem Anlass auch im Besitz eines kleinen Instruments, mit dem man Zecken unfallfrei aus der Haut drehen kann.

altes Tor in Saint-Jean-aux-Bois (c) Michael Kneffel

Unser Lieblingsziel in der näheren Umgebung war mitten im Wald das Dorf Saint-Jean-aux-Bois, dessen Kern eine ehemalige Benedektiner-Abtei bildet, um die herum sich viele schöne alte und sehr gepflegte Natursteinhäuser gruppieren. Große Hoffnungen hatten wir hier in das rustikale Restaurant „La Fontaine St. Jean“ und seine traditionelle regionale Küche gesetzt, das ich auf meiner Fahrradtour im Mai kennen gelernt und in guter Erinnerung behalten habe. Leider schloss es kurz nach unserer Ankunft für die Sommerferien. Wer es etwas feiner möchte, hat im Ort  auch noch die „Auberge a la Bonne Idee“ zur Auswahl.

Le Grand Marechal in Rethondes (c) Michael Kneffel

Besonders gefallen haben uns noch die Dörfer La Brèvière, Vieux-Moulin und außerhalb des Waldes Chelles, Saint-Etienne-Roilaye, Saint-Crèpin-aux-Bois und Rethondes an der Aisne.

Das Herz von Rethondes schlägt im „Le Grand Marechal“, wo man übernachten, essen, einkaufen, Fahrräder ausleihen und sich bei sehr freundlichen Menschen einfach nur wohl fühlen kann. Gehobene Küche bietet im selben Ort der Ein-Stern-Koch Alain Blot. Die Speisekarte war vielversprechend, die Preise überraschend zivil. In unserem Radfahrer-Outfit wären wir dort aber etwas fehl am Platz gewesen.

Von hier ist es auch nicht mehr weit bis zu dem berühmten Eisenbahnwaggon, in dem 1918 und 1940 die Waffenstillstandsabkommen zwischen Frankreich und Deutschland unterzeichnet wurden. Das kleine Museum, in dem der Waggon verwahrt wird, scheint leider in der zentralen Museumsverwaltung Frankreichs keine Fürsprecher zu haben.  (Fortsetzung folgt.)

das Museum zu den Waffenstillstandsabkommen (c) Michael Kneffel

Zwischen Pierrefonds und Compiègne

Pierrefonds mit gleichnamigem Chateau (c) Michael Kneffel

Immer auf der Suche nach dem schönen, alten, „typischen“ Frankreich sind wir in diesem Sommer einmal mehr in der Picardie im Norden Frankreichs fündig geworden. Für zwei Wochen haben wir uns in einem netten Ferienhaus in Retheuil einquartiert, um von dort aus den Wald von Compiègne und die in ihm gelegenen kleinen Orte zu erkunden. Im winzigen Retheuil selbst gab es nicht viel zu sehen, so dass das benachbarte Pierrefonds mit seinem eindrucksvollen Schloss unser eigentliches Zuhause wurde, wo wir unsere Ausflüge starteten und/oder beendeten. Das Schloss von Pierrefonds ist in ganz Frankreich bekannt und beliebt, weil es schon oft die Kulisse für Mantel-und-Degen-Filme bildete. Der Strom von Reisebussen, die ständig neue Besuchergruppen in das Schloss und den Ort bringen, scheint nie abzureißen.

Innenhof des Schlosses Pierrefonds (c) Michael Kneffel

Was von außen wie eine trutzige und wehrhafte Ritterburg aus dem Mittelalter erscheint, ist in Wirklichkeit noch nicht sehr alt. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Schloss nach den Plänen von Eugène Viollet-le-Duc, der u. a. auch die Restaurierung der Kathedrale Notre Dame in Paris leitete, mit viel Liebe zum Detail auf den Ruinen einer mittelalterlichen Anlage „rekonstruiert“.  Viollet-le-Duc besaß offensichtlich eine Menge Humor und interpretierte alte Baupläne ziemlich frei, was ihm von Zeitgenossen auch schon mal die Bezeichnung „Restaurierungs-Vandale“ eintrug. Eine Besichtigung des Schlosses lohnt sich trotzdem, vielleicht auch gerade deswegen.  Dort wo mittelalterliche Burgen mit Verliesen und Folterkammern aufwarten, überraschen die Kellerräume von Pierrefonds mit einer eindrucksvollen Multi-Media-Installation. Zwischen den Statuen und Grabplatten zahlreicher berühmter Franzosen aus vielen Jahrhunderten und allen politischen Lagern flüstern Schauspielerstimmen berühmte Passagen aus deren Schriften und Reden, so als würden diese alten Herrschaften auch heute noch für ihre Werte und Überzeugungen kämpfen.

in Pierrefonds (c) Michael Kneffel

Erstaunlicherweise leidet das Leben im Ort nicht unter dem Touristenandrang. Im Gegenteil. Der Tourismus trägt ganz erheblich dazu bei, dass sich in Pierrefonds alle Einrichtungen halten, die das Leben dort angenehm machen: Hotels, Gastronomie, Lebensmittelgeschäfte usw. Neben dem „Café Restaurant du Commerce“, einer traditionellen Mischung aus Restaurant, Brasserie, Bistrot, Café, Bar, Tabakladen und Wettannahme gibt es zwei ausgezeichnete Boulangerien / Patisserien. Uns hat es besonders „Vanille & Chocolat“ angetan, dessen immer krummen Baguettes einfach sensationell sind. Ein Charcutier-Traiteur mit Rotisserie und zwei kleine Lebensmittelgeschäfte sichern mehr als die Grundversorgung.

Zu unserem Lieblingsplatz in Pierrefonds wurde schon bald eine Bank in einem Gartenlokal direkt unterhalb des Schlosses, das wunderbar improvisiert wirkt, an seinen Eingängen mit Crepes, Eis und Zuckerwatte wirbt und von einem älteren Ehepaar betrieben wird. Immer im Laufschritt wuseln die beiden zwischen den Tischen und Bänken umher, finden aber trotzdem für alle Gäste ein freundliches Wort und lachen gern mit ihnen. Insbesondere Kinder, die gerade das Schloss besichtigt haben und ihre neuen  Holzschwerter und Ritterfiguren präsentieren, fühlen sich von diesem Lokal angezogen, nicht zuletzt wegen des alten Karussells in der hintersten Ecke.

unser Lieblingsplatz in Pierrefonds (c) Michael Kneffel

(Fortsetzung folgt.)

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 17

17. Tag, Dienstag, 24.05.2011, Biganos – Essen, 5:30 – 20:30 Uhr

Um 5:30 Uhr schiebe ich mein Rad zum Bahnhof. Alles, was ich nicht mehr brauche, wie Sonnencreme, Insektenspray usw., lasse ich im Hotel, um Gewicht zu sparen. Zu meiner Überraschung herrscht auf dem Bahnsteig Hochbetrieb. Neben vielen Pendlern wartet schon eine ganze Schulklasse, begleitet von den Eltern, auf den Regionalzug nach Bordeaux. Ohne Mühe bekomme ich das Rad in den Wagen, der durch ein winziges Fahrradsymbol neben der Tür gekennzeichnet ist.

In Bordeaux habe ich 16 Minuten für den Umstieg. Wie es scheint, sind alle anderen Bahnsteige leicht über eine lange Rampe zu erreichen, nur nicht der Bahnsteig 1, auf dem mein TGV abfahren wird. Ich habe die Wahl zwischen einer steilen Treppe und einer ebenso steilen Rolltreppe, entscheide mich für die Rolltreppe, kann nach wenigen Metern das Rad nicht mehr halten, falle rückwärts die Treppe hinunter, bin sofort wieder auf den Beinen, fühle mich eine Weile wie ein Hamster im Laufrad, komme nicht von der Stelle, da mein Rad immer wieder die Stufen hinunter rollt, bis eine junge Frau von hinten meine Rad festhält und ich mich endlich samt Rad aufwärts bewege. Zum Glück ist hinter mir niemand zu Schaden gekommen. Ich bin etwas zerkratzt und habe ein Loch im Hosenbein, als ich auf dem Bahnsteig ankomme. Das Radabteil ist wieder im Wagen 11 hinter dem Triebwagen untergebracht. Mit letzter Kraft und schließlich sogar auf den Knien wuchte ich das Rad die Stufen hoch in den Wagen. Im Eingangsbereich steht ein kräftiger Mann Mitte 30, der mir freundlich lächelnd zusieht, aber keine Hand rührt. „Was für ein Riesenarschloch“, sage ich laut und vernehmlich, als ich auch noch die beiden Stufen in´s Abteil geschafft habe und mein Rad befestige. Die gut dreistündige Fahrt nach Paris zum Bahnhof Montparnasse verläuft ruhig. Mir ist kalt, die Gedärme halten still, ich traue mich nicht, irgendetwas zu essen oder zu trinken. Mitunter fahren wir durch Gebiete, durch die ich Tage zuvor geradelt bin. Beim Aussteigen sehe ich den Mann wieder, der mir nicht geholfen hat, diesmal mit einem Blindenhund.

Für die Fahrt zur Gare de l´Est, wo mein nächster Zug um 11:24 abfahren wird, habe ich zum Glück fast zwei Stunden. Außerhalb des Bahnhofs empfangen mich ein lausiger Wind und ein gewaltiges Verkehrschaos. Paris ersäuft im Autoverkehr. Immer wieder muss ich meine eigentliche Richtung aufgeben und Haken schlagen, weil nichts mehr voran geht und ich selbst mit dem Rad nicht durch komme. Meine Beine sind wie Pudding, für den Weg durch die Stadt brauche ich fast eine Stunde und bin froh, als ich endlich frierend und klapprig den Bahnhof erreiche.

In den TGV nach Karlsruhe komme ich mit der Hilfe eines Mitreisenden problemlos. Der Zug ist nahezu ausgebucht, und ein Mann, der, wie ich später feststelle, bei der französischen Bahngesellschaft beschäftigt ist, macht mich an, weil ich mit meinem Rad nach seiner Meinung zu viel Platz beanspruche. Der Zugbegleiter hat dagegen nichts zu beanstanden, daraufhin lässt der achtsame Bahnmitarbeiter von mir ab und konzentriert sich mit seinem Kollegen in den folgenden zweieinhalb Stunden ganz darauf, Sitze und Fußboden mit Essensresten und Verpackungsmüll voll zu sauen. In Straßburg leert sich der TGV fast völlig aus.

Auf dem Bahnhof in Karlsruhe, wo es einen geräumigen Aufzug auf jedem Bahnsteig gibt, habe ich viel Zeit für den Umstieg in den Euro-City, der mich nach Essen bringen wird. Es ist so warm wie in Arcachon, und unter dem Glasdach veranstalten tatsächlich einige Grillen ihr lautes Konzert. In den Minuten vor Abfahrt meines Zuges füllt sich der Bahnsteig enorm. Es tauchen weitere Radtouristen mit vollbepackten Rädern auf, und mir wird etwas mulmig, weil ich nicht weiß, wie viel Platz für Fahrräder der Zug bietet. Es passen aber alle problemlos in den dafür gedachten Wagen, der nur zu zwei Dritteln wie ein Großraumwagen bestuhlt ist und im restlichen Drittel Befestigungsmöglichkeiten für Räder und Rollstühle bietet. Da ich nicht mehr umsteigen muss, traue ich mich, eine Salzbrezel zu essen und eine Fanta zu trinken. Alles bleibt drin, und ich kann die Fahrt durch das Rheintal genießen.

Pünktlich um 19:57 Uhr komme ich in Essen an. Regine erwartet mich und hilft mir beim Aussteigen. Zu Hause angekommen friere ich wieder, lege mich kurz in die heiße Badewanne, falle danach in´s Bett und schlafe, unterbrochen durch ein gemeinsames Frühstück, bis zum nächsten Mittag durch. Zwei Tage lang, in denen ich mehr Gewicht verliere als auf der gesamten Radtour, hat mich noch der Darmvirus im Griff. Ich bin heilfroh, dass ich diese Tage nicht in meinem Zelt in Biganos verbringen muss.

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 16

16. Tag, Montag, 23.05.2011, Biganos – Arcachon – Biganos, 65 km,  9:30 -18:30 Uhr

Als ich aufwache, ist mir schlecht, und ich würde mich am liebsten übergeben. Die Käsepizza vom Vorabend ist mir anscheinend überhaupt nicht bekommen und hängt mir noch in der Speisröhre. Ich beschließe, es heute ruhig angehen zu lassen und ohne Gepäck nach Arcachon zu fahren, um mir die Stadt anzusehen. Während ich mich gestern noch auf Austern und Meeresfrüchte gefreut habe, kann ich heute nicht einmal an Essen denken, ohne dass mir übel wird.

Endlich am Atlantik (c) Michael Kneffel

Mit  einigen Abstechern durch die kleinen Austernhäfen am Wege folge ich der D 650 nach Westen. Es ist sehr warm und soll in den nächsten Tagen hochsommerlich heiß werden. Arcachon gefällt mir, und ich kann mir gut vorstellen, hier einmal Urlaub zu machen. Im Westen der Stadt, noch geschützt durch die vorgelagerte Landzunge mit dem Cap Ferret, liegt ein langer Sandstrand, der auf baumbestandenen, sehr gepflegten Rad- und Fußwegen zu erreichen ist. Wem die pralle Sonne auf dem Sand zu viel wird, kann sich hier auf einem kilometerlangen Wiesenstreifen unter große alte Bäume zurückziehen. In der Stadt sehe ich viele alte Villen aus der Zeit des Jugendstils. Es gibt viel zu entdecken in Arcachon, und ich finde es schade, dass Regine nicht bei mir ist.

schattige Plätze in Strandnähe (c) Michael Kneffel

Bei aller Begeisterung für die Stadt bleibt mir den ganzen Vormittag präsent, dass ich mich in einer schlechten Verfassung befinde. Ich beschließe, am Bahnhof nachzufragen, ob es am nächsten Tag eine Rückfahrmöglichkeit nach Essen gibt. Im Bahnhof ist mittags nichts los, und ich habe das Glück auf eine freundliche und kompetente Schalterbeamtin zu treffen, die 45 Minuten lang alle erdenklichen Verbindungen daraufhin überprüft, ob in den betreffenden Zügen eine Fahrradmitnahme möglich ist. Dabei wird sie zwischenzeitlich von vier Kolleginnen und Kollegen unterstützt. Schließlich bietet sie mir eine Verbindung mit nur drei Umstiegen in Bordeaux, Paris und Karlsruhe an. Das ist besser als alles, was ich vor meinem Tourbeginn im Internet und per Telefon in Erfahrung bringen konnte – damals allerdings für die Strecke Montpellier – Essen. Ich überlege nicht lange und zahle für die Fahrkarte mit allen nötigen Reservierungen 286,90 Euro. Ein Wermutstropfen bei der Sache ist, dass ich am nächsten Morgen um 5:43 Uhr in Biganos starten muss. Ankunft in Essen ist um 19:57 Uhr.

Durch eine beachtliche Hitze, immer noch mit Pflastersteinen im Bauch und Würgreiz in der Kehle fahre ich zum Campingplatz zurück. Unterwegs trinke ich gegen den Durst einen Liter Trinkjoghurt mit Himbeeren aus einer Lidl-Kühltheke. Das hätte ich nicht tun sollen, weil es mir von da an heftig in den Gedärmen rumort und neben dem Käsepizzageschmack jetzt auch noch ständig das Himbeeraroma hoch kommt. Zurück auf dem Campingplatz baue ich im Schneckentempo mein Zelt ab, bepacke mein Rad und ziehe um in das Hotel „Terminus“ unmittelbar neben den Bahnhof. Als ich mein Gepäck endlich auf dem Zimmer habe, bin ich fix und fertig und lege mich frierend und mit den Zähnen klappernd ins Bett. Ich schlafe sehr schlecht, werde alle 30 Minuten wach und entleere mich mehrmals.

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 15

15. Tag, Sonntag, 22.05.2011, Chatelleraut – Poitiers, Bordeaux – Biganos, 78 km, 8:30 -18:30 Uhr

Die Nacht blieb trocken. Ich stehe um 6:30 Uhr auf, muss warten, bis das Sanitärgebäude aufgeschlossen wird, und starte um 8:30 Uhr. Meine bärtigen Nachbarn in den langen Gewändern beenden in der hintersten Ecke des Platzes gerade ihre Morgengebete. Es ist kühl, der Wind bläst kräftig von vorn, und ich komme kaum voran. In Cenonne-sur-Vienne überquere ich den Fluss und fahre auf dem Westufer des Clain auf Poitiers zu. Die Reifen scheinen an der Straße zu kleben. Jeder Hügel wird zur Qual. Selbst bergab habe ich das Gefühl, kräftig treten zu müssen, um nicht stehen zu bleiben. In meinen Reifen ist viel zu wenig Luft, aber mit meiner Handpumpe bekomme ich nicht mehr hinein. Von den erfolglosen Versuchen schmerzt jetzt auch noch meine linke Schulter. Nach zwei Stunden Fahrt bin ich völlig platt und demoralisiert. Kurz vor Poitiers schließen drei niederländische Radpilger im Rennfahreroutfit auf, die auf dem Weg nach Santiago bzw. Lourdes sind. Wir plaudern kurz miteinander, ich beschreibe mein Reifenproblem, sie halten sofort an, und pumpen mir die Reifen mit ihren Hochleistungspumpen auf. Danach läuft das Rad deutlich besser, trotzdem überholen mich bald ziemlich flott zwei der Radpilger vom letzten Campingplatz. Mir schwant, dass ich am Ende meine Kräfte bin. Zu wenig und zu unregelmäßig gegessen. Keine richtigen Regenerationspausen. Schließlich noch die viel zu weichen Reifen. Von Poitiers bis zur Atlantikküste, meinem nächsten Ziel, würde ich drei Tage lang durch hügeliges Gelände fahren müssen. In meinem jetzigen Zustand schaffe ich das nicht. Ich habe aber auch keine Lust, in dieser Gegend und womöglich auf ähnlichen Campingplätzen wie in Chatelleraut mehrere Tage zu pausieren, um meine Akkus wieder aufzuladen.

Als ich mittags die Stadt erreiche, steuere ich sofort den Bahnhof an und löse ein Ticket samt Reservierungen für mich und mein Rad im TGV nach Bordeaux, Abfahrt 12:48 Uhr, Ankunft 14:39 Uhr. Zwei Fahrstühle, in die ich mit knapper Not das Rad bekomme, bringen mich auf meinen Bahnsteig. Treppen hätte ich mit dem schweren Rad nicht steigen wollen und auch nicht können. Das Fahrradabteil befindet sich in Wagen 11 direkt hinter dem Triebwagen. Zwei Stufen bis in den Wagen, dann noch einmal zwei Stufen bis ins Abteil. Für das Rad müssen 4 Sitze unter einem Fenster hochgeklappt werden. Maximal zwei unbeladene Räder dürfen dort abgestellt werden. Ein Rennrad steht schon dort. Sein Besitzer hilft mir, meinen Lastesel mit Gurten zu befestigen. Ich lasse das Gepäck am Rad, ohne dass es irgendjemanden stört. Meine erste Fahrt in einem TGV hatte ich mir schneller vorgestellt. Der Zug braucht fast 2 Stunden für gute 200 km.

In Bordeaux kann ich den Bahnsteig komfortabel über eine lange Rampe verlassen. Aus der Bahnhofshalle im Untergeschoss gelange ich über die Tiefgarage ins Freie.  Ich suche auf dem Vorplatz einen Stadtplan, finde nichts, auch nicht das Touristenbüro, das hier irgendwo sein soll und von dem ich mir Übersichtskarten mit den Radwegen der Region erhofft hatte. Also orientiere ich mich an der Sonne und setze mich Richtung Westen in Bewegung. Mein Ziel ist das Becken von Arcachon am Atlantik, ungefähr 40 Km entfernt. Bordeaux ist keine Kleinstadt. Bis zur Stadtgrenze durchquere ich große und wenig attraktive Vororte. In einem mache ich Pause und esse ein Sandwich. Ab hier muss ich auf der N 250 nur noch immer geradeaus fahren. Normalerweise meide ich diese großen Nationalstraßen, aber hier gibt es weit und breit keine Alternative. Auf dem glatten Asphalt und mit der Unterstützung von Traubenzucker komme ich gut voran. Kurz nach 18:00 Uhr erreiche ich Biganos und finde einen kleinen Campingplatz am Rand des Ortes, an der Straße nach Audenge. Der Platz macht einen guten Eindruck, befindet sich aber noch im Vorsaisonschlaf. Nur die ausgehungerten Riesenmücken sind hellwach und stürzen sich auf mich. Eine einzige Toilette ist geöffnet, auch die meisten Duschen und Waschkabinen sind noch verschlossen. Ich baue in der Nähe von einem älteren niederländischen Paar auf, das den Santiago-Pilgerweg in umgekehrter Richtung befährt. Als das Zelt steht und ich geduscht bin, gehe ich in die zum Platz gehörende Bar, wo ich der einzige Gast bin. Mein Hunger hält sich in Grenzen, aber um den Abend zu füllen, esse ich eine dick mit vier Käsesorten belegte Pizza und trinke dazu zwei Bier. Ich bin glücklich, wieder im Flachland zu sein, am nächsten Tag den Atlantik zu sehen, weiß aber noch nicht, wie es dann weitergehen soll. Nach meiner ursprünglichen Planung wollte ich weiter nördlich auf die Küste treffen und sie südlich von Arcachon wieder verlassen, um dann durch das schöne Waldgebiet der „Landes“ Richtung Canal du Midi zu fahren. Auf diesen Abschnitt der Tour hatte ich mich besonders gefreut. Aber heute habe ich gemerkt, dass ich mit meinen Kräften am Ende bin und dringend eine Pause benötige.

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 14

14. Tag, Samstag, 21.05.2011, Chinon – Chatelleraut, 72 km, 8:30 – 17:00 Uhr

Um 4:00 Uhr werde ich wach. Einige Leute unterhalten sich lange laut und aufgeräumt in meiner Nähe. Es klingt, als sei der Platz-Manager dabei. Nach zwei Wochen Radtour weiß ich, dass jemand, der mal in Ruhe durchschlafen möchte, nicht im Zelt auf einem Campingplatz übernachten sollte. Um 6:30 Uhr stehe ich auf, zwei Stunden später fahre ich los, kaufe im Ort zwei Karten für die Gegend um Poitiers, versorge mich beim Bäcker und quäle mich die üble Steigung in die Oberstadt hinauf. Dort frühstücke ich und mache mich dann auf die Suche nach dem Fahrradladen, den ich schließlich am Rande des Gewerbegebietes finde. Innerhalb einer Stunde bekomme ich zwei neue Mäntel aufgezogen, diesmal von Continental, deutlich breiter als die bisherigen und mit mehr Profil, aber ich bin froh, in diesem kleinen Ort überhaupt eine gute Werkstatt und passende Ersatzteile gefunden zu haben. Der Mechaniker ist der Meinung, dass zu hoher Druck dem alten Reifen zum Verhängnis geworden ist. In die neuen gibt er mir nur 3 bar Druck und meint, das sei ausreichend. Für die Reparatur zahle ich 50 Euro.

Wieder unten in der Stadt angekommen, sehe ich dass es einen kostenlosen Aufzug für Fußgänger und Radfahrer in die Oberstadt gibt. Ich verlasse die Stadt auf dem Nordufer der Vienne, finde das Fahren reichlich mühsam und schiebe das auf den heftigen Wind, die hohen Temperaturen und den höheren Rollwiderstand der neuen Reifen. In L´Ile Bouchard esse ich früh und miserabel zu Mittag. Das Restaurant sah einladend aus, aber was auf den Teller kommt, stammt wahrscheinlich aus der Kühltheke des billigsten Supermarkts der Gegend. Fürchterlich. Auf der anderen Seite des Flusses geht es weiter bis Dangé-St-Romain. Die Straße ist topfeben, meine Durchschnittsgeschwindigkeit ist trotzdem niedriger als an allen Tagen zuvor. Im Ort treffe ich vor einer Bar vier niederländische Radpilger aus der Gegend von Nijmegen, von denen einer einen Platten flickt. In 14 Tagen sind sie wie ich um die 1100 km gefahren, allerdings auf der „offiziellen“ Pilgerroute. Nach einem großen Café au lait und einem Erdbeertörtchen aus der gegenüberliegenden Bäckerei läuft es bei mir wieder besser. Ich nehme mir vor, in Chatellerault zu übernachten, dort soll es einen Campingplatz geben. Die Stadt ist allerdings alles andere als einladend. Mein Verdacht ist, dass sich das berühmte, ungefähr 20 km entfernte Poitiers aller sozialen und städtebaulichen Probleme, die den Tourismus stören könnten, in Chatelleraut entledigt hat. Nach längerer Suche finde ich den Campingplatz hinter einem Gewerbegebiet am Südostrand der Stadt, an einer Bahnlinie mit viel Güterverkehr. Auf dem Platz begegnen mir zunächst 15 bis 20 junge Männer mit langen Bärten in weißen Gewändern, die ich für strenggläubige Muslime halte. Weiter hinten auf dem Platz spielt eine Gruppe junger Männer mit nordafrikanischen Wurzeln Fußball. Ständig kommen und gehen Jugendliche, die ganz offensichtlich nicht auf dem Platz wohnen. Daneben scheint es junge Familien mit mehreren Kindern zu geben, die hier dauerhaft beheimatet sind. Ich fühle mich wie ein Fremdkörper und bin froh, dass nach mir noch drei niederländische Radpilger ihre Zelte aufbauen. Später kommt ein belgischer Fußpilger mit Hund dazu. Als mein Zelt steht, meine Sachen gewaschen sind und ich geduscht bin, fahre ich zu einem großen Carrefour-Supermarkt in der Nähe und kaufe etwas zu essen und zu trinken ein. Während meines abendlichen Picknicks unterhalte ich mich mit den Pilgern. Über den Himmel ziehen dunkle Gewitterwolken, aus der Ferne ist Donner zu hören, es bleibt aber trocken.

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 13

13. Tag, Freitag, 20.05.2011, Amboise – Chinon, 79 km, 10:30 – 16:30 Uhr

Die Tauben im Baum über mir machen mich sehr früh wach. Ich schlafe dann aber doch noch mal tief und fest ein und komme erst spät wieder auf den Sattel, nachdem ich noch 6 Euro für die Übernachtung bezahlt habe. Bis Tours sind es keine 20 km auf der D 751. Ich erhoffe mir von der Stadt ein gutes Frühstück, stelle dann aber fest, dass sich die eigentlich schöne Innenstadt von Tours seit meinem letzten Besuch vor etwa 30 Jahren zwar zu einer riesigen Fress-Meile entwickelt hat, ein einfaches Frühstück mit einem Milchkaffee und Croissants finde ich aber nicht. Es gibt jede Menge Restaurants, dazu alle Arten von Fast-Food. Kein Meter Hausfassade, vor dem nicht Tische und Stühle stehen. Es ist gar nicht so einfach, mit dem vollen Rad durch die Fußgängerzone zu schieben, da auch hier große Touristengruppen unterwegs sind und wie Schafherden die Straßen blockieren. Eine amerikanische Gruppe wird von einem singenden Stadtführer angeführt. Drei Border-Collies wären wesentlich sinnvoller. Was ist aus dieser Stadt geworden? Am Rande der Innenstadt finde ich schließlich doch noch einen Bäcker, esse auf einer Bank am Flussufer, fahre schnell weiter und trinke meinen Kaffee erst viel später, weit außerhalb der Stadt.

Ab Savonnières fahre ich bei sommerlichen Wetter und weiterhin kräftigem Westwind auf der D 7 weiter und genehmige mir meine zweite Portion Energie-Gel, als ich merke, dass meine körpereigenen Reserven zur Neige gehen. In Huismes verlasse ich die Loire, erspare mir den Anblick des nächsten AKW und schwenke nach Süden, Richtung Chinon. Damit ist auch die Entscheidung getroffen, nicht dem Fluss bis zur Küste zu folgen, sondern, wie anfangs geplant, über Poitiers weiter nach Süden zu fahren. Rummel und Verkehr an der Loire sind mir einfach zu viel. Ich möchte wieder in ländlichere, ruhigere Gegenden, auch wenn ich dafür einige Hügel in Kauf nehmen muss. Mit den Hügeln geht´s auch sofort los. Zum Stadtrand von Chinon geht es stramm bergauf, um dann sofort wieder steil nach unten ins Zentrum und an das Ufer der Vienne zu gehen.

Der Campingplatz liegt sehr schön auf dem anderen Ufer, seine Atmosphäre ist familiär. Meine Nachbarn, ein älterer Herr und seine noch ältere Mutter stammen nach dem Autokennzeichen aus Paris und sehen so aus, als würden sie schon seit 30 Jahren auf genau demselben Rasenstück Urlaub machen. Jeder scheint hier jeden zu kennen. Außerhalb des Platzes, unmittelbar am Wasser, habe ich bei der Anfahrt eine improvisierte, gut besuchte Freiluft-Guingette gesehen. Alles wirkt sehr idyllisch, und ich fühle mich wieder wohler als an der Loire. Der Schreck kommt, als ich nach dem Zeltaufbau, der Wäsche und dem Duschen mein Rad genauer betrachte. Am Vorderreifen hat sich ein etwa 20 cm langer Abschnitt verformt. Die Lauffläche geht dort auseinander wie eine Fleischwurst in heißem Wasser. Mit diesem Reifen werde ich nicht mehr weit kommen. Das Hinterrad sieht intakt aus, allerdings ist das Profil noch stärker abgefahren als vorne. Ich frage nach einem Fahrradladen und höre zu meiner Erleichterung, dass es tatsächlich einen im Ort geben soll, allerdings ungefähr dort, wo vorhin meine rasende Abfahrt begonnen hat. Nach 21 Jahren hat auch ein Schwalbe-Marathon-Reifen jedes Recht, den Geist aufzugeben, ich werde aber den Verdacht nicht los, dass es gar nicht am Alter gelegen hat, sondern an einem viel zu hohen Luftdruck aus einer englischen Profi-Pumpe.

Am Abend sehe ich mir die volle Guingette aus der Nähe an, laufe auf der Brücke in Richtung Ortskern, sehe schon von weitem, dass die Bürgersteige hochgeklappt sind, drehe wieder ab, esse in einem unscheinbaren Lokal an der Brücke ein gutes Omelette und ein Eis, unterhalte mich nett mit der Lokalbesitzerin, die schon dabei war den Laden zu schließen und sich über die späte Einnahme freut. Wie sich herausstellt, ist sie vor Jahren mit ihrem Mann aus Paris an die Vienne gezogen und kann sich heute nicht mehr vorstellen, im Lärm der Hauptstadt zu leben.