Ma douce France

Trouville-sur-Mer im Juli 2016 © Michael Kneffel
Trouville-sur-Mer im Juli 2016 © Michael Kneffel

Erinnerungen von Regine Möllenbeck

Beinahe das ganze Jahr 2020 und nun offenbar auch mindestens die erste Hälfte des Jahres 2021 bestimmt Corona in hohem Maße unseren Alltag, vor allem bestimmt es unser Reisen und, was schlimmer ist, unser Nicht-Reisen. Je mehr und je länger das wirkliche Verreisen mir versagt bleibt, umso mehr gehe ich dazu über, in Gedanken auf Reisen zu gehen.

Ein erster Impuls dafür war die Fernsehübertragung der Tour de France im Sommer 2020. Anders als in den Vorjahren hatte ich viel Zeit zuzusehen. Sportlich interessiert mich die Tour überhaupt nicht, aber ich habe trotzdem ganz gerne zugeschaut bei dieser Frankreichrundreise aus der Hubschrauberperspektive. Viele Streckenabschnitte waren so interessant, dass ich das ständige Reden über Radfahrer gut überhören konnte.

La Tour de France © Michael Kneffel
Le Tour de France © Michael Kneffel

Die Tour de France im Sommer 2020 war ganz überwiegend im südlichen Teil Frankreichs unterwegs und damit in den Regionen, die ich zwar kenne, in denen ich aber schon ziemlich lange nicht mehr war. So manche Etappe hat deshalb bei mir Erinnerungen an längst vergangene Urlaube geweckt. Oft habe ich dann gedacht: es ist wirklich richtig schön da — um mich dann zu fragen: möchte ich noch einmal an all die Orte, die ich als schön in Erinnerung habe – vorausgesetzt man darf es wieder?

Inzwischen zieht es mich vor allem an die Atlantikküste, wegen ihres Lichtes, glaube ich, oder wegen der Farben oder wegen des Himmels oder wegen des Essens – oder weil dort einfach alles stimmt.

bei Ebbe …. kein Wasser so weit das Auge reicht (c) Michael Kneffel

Ich freue mich schon sehr darauf, hoffentlich bald wieder hinfahren zu können.

Vor allem der Norden Frankreichs und seine Küsten, die von Nord-Pas de Calais, die der Picardie und der Normandie liegen doch ganz nahe, nur einen Katzensprung entfernt, wie man so sagt. Es ist so schade, dass man zur Zeit  noch nicht einmal einen solchen Katzensprung tun kann.

Bis es so weit ist, ist es eine nette Beschäftigung in Gedanken zu reisen und sich an viele schöne Orte zu erinnern, auch an solche, an denen ich vor langer Zeit war. Zahlreiche Begegnungen kommen mir wieder in den Sinn, denn sie gehören zum Urlaub ebenso dazu wie Landschaften und das Wetter.

Und warum schreibe ich es auf?

Aus Freude – Freude daran, mir durch das Aufschreiben selbst einen Anlass zu schaffen, an Frankreich und an Urlaub zu denken, und sicherlich auch aus Freude daran, mich in tendenziell eher langweiligen Corona-Zeiten mit etwas Schönem zu beschäftigen. Ich schreibe also eher für mich und wer mag, kann es gerne lesen. Im Sinne einer Gebrauchsanweisung möchte ich aber betonen, dass es lediglich meine Erinnerungen sind; ihnen wohnt kein Aufforderungscharakter inne, womöglich hinzufahren. Es scheint sich die Haltung zu verbreiten, man müsse ganz unbedingt gewisse Dinge tun oder eben auch bestimmte Orte besuchen, weil alle anderen es auch tun. In unseren Urlauben und vor allem auch in den großen Städten wundern wir uns über diejenigen, die auf uns wirken, als seien sie eigentlich nur dort, weil ein Reiseführer sie denken läßt, dass sie ganz unbedingt hin müßten, wo sie nun tatsächlich auch sind. Sie stehen auf Plätzen und vor Aussichten, machen ein Photo, ein Selfie selbstredend, und auf uns wirkt es, als würden sie dabei vor allem in Gedanken einen Haken machen, im Sinne von „dagewesen-abgehakt“. Letztendlich scheint es ihnen recht egal zu sein, ob sie wirklich da waren, wo sie waren.

Diese Entwicklung befremdet mich, um es vorsichtig auszudrücken, und ganz bestimmt werde ich also von keinem Ort in Frankreich behaupten, man müsse dort hin. Man muss noch nicht einmal nach Frankreich, wer so drauf ist, ist nicht nur, meiner Ansicht nach, im falschen Film, sondern er wäre auch im falschen Land.

Michael ist sowieso dafür, dass wir gar nicht laut preisgeben, wo es uns bisher besonders gut gefallen hat – damit nicht so viele Menschen dort hin fahren. Nun ja, ganz ernst scheint er es doch nicht zu meinen, sonst dürfte er nicht so sehr von Les Sables-d’Olonne schwärmen.

Ein wenig sentimental gebe ich mich also meinen Erinnerungen hin und lasse vor meinem geistigen Auge noch einmal Revue passieren, was ich in inzwischen mehr als 50 Jahren von Frankreich so alles gesehen habe.

Wenn ich dabei, zumindest vage, der Chronologie folge, in der ich Frankreich kennengelernt habe, dann muss ich im Süden starten, werde mich anschließend in die Bretagne begeben, von dort in die Vendée und an die Küste Aquitaniens. Erst zum Schluss bringt mich diese Streckenführung dann an die Küsten im Norden, an die in Nord-Pas de Calais, die der Picardie und der Normandie. So oder zumindest so ungefähr entspricht es meiner sukzessiven Entdeckung des Landes, die sich lange hingezogen hat, aber immer wieder neue angenehme Überraschungen mit sich brachte.

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Ein chinesischer Friedhof an der Somme

Chinesischer Friedhof in Noyelles-sur-Somme © Michael Kneffel

Chinesischer Friedhof in Noyelles-sur-Somme © Michael Kneffel

Bei der diesjährigen Ruhrtriennale hat sich William Kentridge auf grandiose Weise mit der weitgehend unbekannten Geschichte von 2 Millionen Afrikanern beschäftigt, die von den damaligen Kolonialmächten gezwungen wurden, in den Ersten Weltkrieg zu ziehen. Sein Stück The Head and the Load,  hat mich an einen chinesischen Friedhof erinnert, auf den ich vor Jahren zufällig im kleinen Dorf Noyelles-sur-Mer an der Mündung der Somme gestoßen bin. 843 chinesische Arbeiter sind hier begraben von insgesamt 150.000, die 1916 von der französichen Regierung in China angeheuert wurden. Beschäftigt wurden diese Arbeiter zunächst beim Bau der kriegswichtigen Eisenbahnlinie von Paris nach Calais und beim Transport von Munition an die Frontlinie. Schon bald wurden sie aber mehr und mehr an der Front selbst eingesetzt, beim Bau und Ausbessern von Schützengräben und beim Bergen von Leichen. Dabei gerieten sie ebenso in das feindliche Feuer wie die französischen Soldaten. Auch ihre Unterbringung und Behandlung scheint bestenfalls der von einfachen Soldaten entsprochen zu haben, obwohl sie gegen Lohn beschäftigt wurden.

Wie viele von ihnen während des Krieges und durch unmittelbare Kriegshandlungen umgekommen sind, scheint unklar zu sein. Nach China konnten anscheinend nur wenige zurückkehren.. Wie eine Informationstafel am Friedhof verrät, ist die große Mehrheit spätestens 1920 an der Spanischen Grippe verstorben.

Grabstein auf dem chinesischen Friedhof in Noyelles-sur-Somme © Michael Kneffel

Grabstein auf dem chinesischen Friedhof in Noyelles-sur-Mer © Michael Kneffel

Mein Foto der Woche – Roter Mohn

roter Mohn © Michael Kneffel

roter Mohn © Michael Kneffel

2014 jährt sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal. In Frankreich ist die Erinnerung an diesen Krieg ungleich präsenter als in Deutschland. Noch immer heißt er dort „La Grande Guerre“. Eine der ersten Blumen, die auf den völlig verwüsteten Schlachtfeldern des Großen Krieges wieder wuchsen, war der rote Mohn. Schon bald wurde er zum Symbol des Gedenkens an Millionen tote Soldaten.  Wer in diesem Jahr Frankreich besucht, wird an vielen Orten auf rote Mohnblüten stoßen.

 

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Die Küste der Picardie 4 – Vogeljagd und Vogelschutz in der Bucht der Somme

Mitten in meinen Tiefschlaf knallt und knattert es wie das Silvesterfeuerwerk am Brandenburger Tor. Der Lärm ist so infernalisch, dass eine Instanz in meinem Hirn beschließt, ihn für den Bestandteil eines Traums zu halten. Wie in Jaques Tatis Film „Die Ferien des Monsieur Hulot“ sehe ich eine kleine Strandbude vor meinem geistigen Auge, die in tiefer Nacht fast zu explodieren scheint. Jemand hat versehentlich das darin für den nächsten Abend gelagerte Feuerwerk entzündet. Diese Vorstellung bereitet mir großes Vergnügen, bis mir allmählich klar wird, dass ich gar nicht träume und dass der Höllenlärm echt ist. Ich werde langsam wach und versuche, mich zu orientieren. Ich liege im Bett einer Ferienwohnung in Le Crotoy an der Bucht der Somme. Es ist Sommer, und draußen ist es noch nicht ganz hell. Was zum Teufel soll also dieser Radau? Und dann sickert mir allmählich eine kleine Information ins Bewusstsein, die ich in den Tagen vorher offensichtlich verdrängt hatte: 1. August, Beginn der Jagdsaison. Seit sechs Uhr in der Früh ballern Jäger in der Bucht was das Zeug hält, und ich kann mir kaum vorstellen, dass auch nur ein Vogel der Gegend das Trommelfeuer überleben wird. Später am Tag stelle ich fest, dass dies zum Glück ziemlich vielen gelungen ist. Möglichweise nur deshalb, weil nicht wenige Jäger schon am frühen Morgen große Mengen Alkoholisches in sich hinein gegossen haben. Die Parkplätze am Rand der Bucht sind mit leeren Flaschen und Bierdosen vollgemüllt.

Spaziergänger bei Ebbe in der Bucht der Somme (c) Michael Kneffel

Spaziergänger bei Ebbe in der Bucht der Somme (c) Michael Kneffel

Dabei kann es hier so schön sein. Seit wir zum ersten Mal an einem windstillen Abend von Le Crotoy aus bei Ebbe weit in die Bucht der Somme hinausgelaufen sind, übt dieses Fleckchen Frankreich eine fast schon magische Anziehungskraft auf uns aus. Auf zehn Kilometern Länge mündet die Somme nach ihrer langen Reise durch die Picardie von Südost nach Nordwest in den Ärmelkanal und hat einen weitläufigen Trichter aus Salzwiesen und Schlickgebieten geschaffen, die bei jeder Flut gewässert werden. Ein großer Teil des Gebietes steht seit 1994 unter Naturschutz und bietet als Réserve naturelle de la baie de Somme Lebensraum für über 300 Vogelarten. Viele Zugvögel machen hier Zwischenstation auf ihren langen Reisen von Kontinent zu Kontinent. Im äußersten Norden der Bucht  liegt der Parc du Marquenterre, eines der bekanntesten Vogelschutzgebiete Frankreichs. Es umfasst 250 ha Fläche. Weit draußen im Mündungsgebiet leben seit einigen Jahren wieder Seehunde und Kegelrobben, die sich von Ausflugsschiffen leicht beobachten lassen.

Krickente im Vogelpark von Marquenterre (c) Michael Kneffel

Ornithologe mit Krickente im Vogelpark von Marquenterre (c) Michael Kneffel

Dass Naturschutz und exzessive Jagd so nah beieinander liegen können, hat seine Wurzeln in der Französischen Revolution. Damals wurde das Jagdprivileg des Adels abgeschafft, und jeder Bürger durfte fortan mit der Flinte bewaffnet auf die Jagd gehen. Dieses Recht gilt auch heute noch als nahezu unantastbar und wird von den ca. 1,5 Millionen Jägern und ihren einflussreichen Vereinigungen mit allen Mitteln, nicht immer sauberen, verteidigt. Jeder, der in Frankreich die politische Macht anstrebt, vermeidet es, sich mit dieser Gruppe ernsthaft anzulegen.

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Die Küste der Picardie 3 – entlang der Steilküste von Mers-les-Bain nach Bois-de-Cise

das Meer bei Mers-les-Bains im Winter (c) Michael Kneffel

Es ist kalt. Es ist  windig. Und es ist wunderbar. Wir stehen Ende Dezember hoch über dem Meer und schauen in ein konturloses Grau-Türkis, zu dem sich Wolken und Wasser verbunden haben. Nicht auszuschließen, dass wir in den nächsten Stunden noch Regen abbekommen werden. Aber egal. Eine der schönsten Unternehmungen an der Küste der Picardie und ein absolutes Muss bei jedem unserer Besuche ist die Wanderung von Mers-les-Bains nach Bois-de-Cise. Bei fast jedem Wetter.

Für die knapp vier Kilometer sollte man viel Zeit einplanen, zum einen wegen etlicher Höhenmeter, die zu überwinden sind, mitunter auf ziemlich steilen Wiesen, zum anderen wegen der grandiosen Aussicht, die einen immer wieder anhalten und einfach nur schauen lässt.

Steilküste zwischen Mers-les-Bains und Bois-de-Cise (c) Michael Kneffel

Beginnend an der Statue „Notre Dame de la Falaise“, die hoch oberhalb von Mers-les-Bains steht, führt ein spektakulärer Fußweg immer am Rand der Klippen entlang nach Bois-de-Cise.

Nur wenige Meter neben dem Fußweg geht es an manchen Stellen bis zu 100 Meter senkrecht abwärts. In den Kreidefelsen leben jede Menge Seevögel, die sich hier gut beobachten lassen und ihrerseits auch gern ein Auge auf die Wanderer werfen. Das Meer unterhalb der Felsen leuchtet vom ständig abbröckelnden und sich auflösenden hellen Kalkstein in einem fast unwirklich schönen Blau-Grün. Auf der anderen Seite des Weges erstrecken sich im Sommer anfangs große Getreidefelder, später satte grüne Weiden. Ab und zu muss ein Zaun an vorbereiteten Über- oder Durchgängen überwunden werden, und gelegentlich muss man eine Herde gutmütiger Rindviecher entweder durchqueren oder weitläufig umgehen – je nach Mentalität und Mut.

Villen in Bois-de-Cise (c) Michael Kneffel

Bois-de-Cise wurde ebenso wie Mers-les-Bains auf dem Reißbrett als Sommerfrische geplant und ab 1898 in relativ kurzer Zeit in einem bewaldeten, langen Tal erbaut, das sich zum Meer öffnet. Bis heute ist Bois-de-Cise eher eine Feriensiedlung, bestehend aus repräsentativen Belle-Époque-Villen, als ein lebendiger Ort mit entsprechender Infrastruktur. Außerhalb der Hauptsaison begegnet man hier nur wenigen Menschen, und es empfiehlt sich, ausreichend Verpflegung und Wasser für die Wanderung einzupacken. In den Hauptferienmonaten hat dagegen auch das Restaurant des Ortes geöffnet und gelegentlich findet ein Flohmarkt oder ein kleines Fest im Freien statt.

(Fortsetzung folgt.)

Die Küste der Picardie 2 – die bunten Häuser von Mers-les-Bains

Wenn sich im Sommer halb Paris auf den Weg in die Ferien macht, zieht es auch heute noch viele der Großstädter an die Küste des Ärmelkanals. Seinen Anfang nahm der Drang zum Meer vor gut zweihundert Jahren. Bis dahin wäre kaum ein Mensch auf die Idee gekommen, freiwillig ins Meer zu steigen. Selbst die Fischer an den Küsten waren Nichtschwimmer, und nichts war ihnen fremder als die Vorstellung, im Meer zu baden. Es waren die Bewohner der großen Städte und die Angehörigen der wohlhabenden Schichten, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die See und das Baden zu begeistern begannen. Neue Eisenbahnlinien an die Küste beförderten diese Entwicklung ungemein. Der Urlaub an der See sollte ein einziges buntes und fröhliches Fest werden. Diesen Anspruch sieht man vielen Villen an der Küste der Picardie noch heute an.

Villen in Mers-les-Bains (c) Michael Kneffel

Vor über zwanzig Jahren hat uns der Charme der nordfranzösischen Küste und seiner Bewohner schon einmal gefangen genommen. Auf der Anreise zu einer Normandie-Fahrradtour machten wir bei scheußlichem Regenwetter nahe Wissant im Département Pas-de-Calais Station, in einem Gästehaus, das von einer älteren Dame geführt wurde. Vor dem strammen Seewind geschützt lag das alte Anwesen, völlig von Rosenhecken umgeben, in einer Mulde nahe der Steilküste. Unser stilvoll eingerichtetes Gästezimmer besaß eine erlesene Handbibliothek zum Thema Zen-Buddhismus, der Frühstückskaffee wurde in silbernen Kännchen serviert, und am Abend saßen alle Gäste des Hauses im Salon am Kamin zusammen, wo die Gastgeberin unaufdringlich und gekonnt die zusammengewürfelten Durchreisenden miteinander ins Gespräch brachte. Den Aufenthalt in diesem Haus „bei Madame“ haben wir nie vergessen, und trotzdem dauerte es sehr lange, bis wir wieder in den äußersten Norden Frankreichs zurückkehrten. Auslöser hierfür war die „Europäische Kulturhauptstadt“ Lille im Jahre 2004.

frisch restaurierte Keramik an der Villa Pomone in Mers-les-Bains (c) Michael Kneffel

Begeistert von der lebendigen Stadt mit ihrer alten Bebauung und der jungen Bevölkerung hatten wir Lille in jenem Jahr schon drei Mal besucht. Beim vierten Besuch waren wir auch neugierig auf das Umland und die relativ nahe Küste. So kamen wir über Arras und Amiens schließlich nach Mers-les-Bains am äußersten Südzipfel der picardischen Küste. Fasziniert und erschrocken zugleich liefen wir durch den alten Badeort. Fasziniert wegen der vielen bunten Häuser mit verspielten Fassaden an der Strandpromenade und erschrocken wegen des völlig maroden Zustands ganzer Straßenzüge in der zweiten Reihe. Wind und Salz nagen hier beständig an den Fassaden. Wenn die Anstriche nicht regelmäßig erneuert werden, beginnt sehr schnell der Verfall. Heute sind die meisten Häuser in Mers-les-Bains wieder renoviert und bewohnt. Der Ort erstrahlt in neuem Glanz und zieht viele französische Sommergäste an.

Villen in Mers-les-Bains (c) Michael Kneffel

Nähert man sich dem Ort mit dem Auto von Osten, vorbei an Kleinindustrie und Gewerbeansiedlungen, ahnt man auch nicht ansatzweise, welche architektonischen Schätze Mers-les-Bains in Strandnähe bietet. Nach der Fertigstellung der Eisenbahnlinie von Paris zum Nachbarort Le Tréport im Jahre 1873, wurde der Badeort in den Jahrzehnten der Belle Époque sehr systematisch auf der grünen Wiese errichtet. Wunderschöne Villen säumten bald die Promenade und die auf sie hinführenden Straßenzüge. Feriendomizile im anglo-normannischen, maurischen, flämischen und picardischen Stil schossen bis zur Jahrhundertwende aus dem Boden. Dazu kamen Häuser in Stilrichtungen, die mit den Namen der Regenten Louis XIII und Napoléon III verbunden werden, später dann Villen im typischen Stil der 30er Jahre. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde auch das große Hotel Bellevue an der Promenade gebaut, dessen Café und Restaurant sehr als Ausgangangs- oder Endpunkte für Streifzüge durch den Ort zu empfehlen sind.

(Fortsetzung folgt.)

Die Küste der Picardie – eine Küste für Entdecker

Steilküste bei Mers-les-Bains (c) Michael Kneffel

Auf dem Weg zur Küste der Picardie im Frühjahr: Dicke weiße Wolken mit grauen Bäuchen vor einem hohen blauen Himmel, darunter eine weite, sanft gewellte Landschaft mit blühenden Rapsfeldern. Ein Bauer betrachtet versunken ein Fahrrad, das an einer Hauswand lehnt. Eine alte Frau schneidet Löwenzahn am Straßenrand. Mehr scheint mittags nicht los zu sein in der Picardie. Eine Landschaft wie im Dornröschenschlaf. Orte, die in kaum einem Reiseführer vorkommen. Weite, Stille, Unaufgeregtheit. Schon bevor wir das Meer sehen, stellt sich Entspannung ein.

In den letzten Jahren hat sich die Küste der Picardie zu einem unserer Lieblingsreiseziele in Frankreich entwickelt. 500 Km, keine ganze Tagesreise, trennen den 70 Kilometer langen Küstenstreifen am Ärmelkanal vom Ruhrgebiet. Zwischen den Badeorten Mers-les Bains und Fort-Mahon-Plage gibt es Landschaften zu entdecken, die unterschiedlicher kaum sein können: eine Steilküste mit imposanten Kreideklippen im Süden, scheinbar endlose Sandstrände hinter weitläufigen Dünen im Norden und dazwischen die Bucht der Somme, eine der schönsten Buchten der Welt, wie enthusiastische Zeitgenossen vor Ort behaupten.

in der Bucht der Somme (c) Michael Kneffel

In diesem Landstrich, um den die großen Touristenströme aus Deutschland und den Beneluxländern einen Bogen machen, hat sich vieles von dem gehalten, was wir an Frankreich lieben und was in anderen französischen Regionen mehr und mehr verschwindet: authentisches Alltagsleben anstelle einer folkloristischen Kulisse für wenige Urlaubswochen, unverbrauchte Landschaften anstelle von touristischen „Hotspots“, die von wuchernden Gewerbegebieten eingekreist werden und im Verkehr ersticken, unaufdringliche Herzlichkeit anstelle von professioneller Freundlichkeit, die vor allem auf die Portemonnaies der Gäste zielt. Wer das „alte“, „typische“ Frankreich sucht, wird heute im hohen Norden leichter fündig als in den beliebten Feriengebieten im Süden und kann hier viele positive Überraschungen erleben.

(Fortsetzung folgt.)

weiter Strand bei Quend-Plage-les-Pins (c) Michael Kneffel

Zwischen Pierrefonds und Compiègne – 3. Teil

im Schlosspark von Compiègne (c) Michael Kneffel

Das am anderen Ende des großen Waldgebietes liegende Compiègne haben wir bei dem sehr instabilen Wetter dann doch lieber mit dem Auto als mit dem Rad besucht, und zwar gleich mehrmals. In der hübschen und lebendigen Kleinstadt mit vielen Verwaltungseinrichtungen und großem Theater hat uns besonders das Schloss angezogen. Von seiner rückwärtigen Terrasse führt die 4,5 Kilometer lange schnurgerade Allée des Beaux Monts durch Garten, Park und Wald bis zu einem Aussichtshügel, dem Ziel- und Wendepunkt vieler Spaziergänger und Jogger. Auf den weiten Wiesen des Parks lassen sich bei schönem Wetter nicht wenige Bürger der Stadt nieder und genießen die Natur.

Über das schöne Senlis führte unser weitester Ausflug zum rund 50 Kilometer entfernten Schloss von Chantilly, das mit dem Museum Condé die größte Sammlung alter Gemälde außerhalb des Louvre beherbergt.

Musée Condé im Schloss Chantilly (c) Michael Kneffel

Fast noch eindrucksvoller als das Schloss selbst sind die Pferdeställe seines Reitgestüts aus dem Jahr 1719, die größten und prächtigsten der Welt – auch olfaktorisch ein umwerfendes Erlebnis. Besser hat es uns dann doch im Restaurant des Schlosses gefallen, das in der alten Schlossküche untergebracht ist. Hier soll 1671 Francois Vatel, Haushofmeister und Koch des Prinzen von Condé, die berühmte Crème Chantilly erfunden haben. Alle Gerichte im Restaurant sollen nach Original-Rezepten Vatels zubereitet werden, der zu den bedeutendsten Küchenmeistern seiner Zeit zählte. Kann sein, dass heute noch seine Rezepte verwendet werden, dann aber von weniger begnadeten Köchen. Unser Essen war eher mittelmäßig und konnte mit dem historischen Ambiente nicht mithalten.

Abteiruine in Soissons (c) Michael Kneffel

Von Besuchen des östlich von Pierrefonds gelegenen Soissons wird in vielen Reiseführern zwischen den Zeilen eher abgeraten. Diese uralte und für die Geschichte Frankreichs wichtige Stadt lag im ersten Weltkrieg 80 Tage lang auf der heftig umkämpften Frontlinie. Dabei blieb kaum ein Stein auf dem anderen. Im Zuge des Wiederaufbaus hat sich um Soissons herum eine Menge Industrie und Gewerbe niedergelassen, was den Tourismus auch nicht gerade fördert. Einen Besuch wert sind jedoch allemal die Ruine der Abteikirche Saint-Jean-des-Vignes und das benachbarte Museum.

Zwischen Pierrefonds und Compiègne – 2. Teil

Aussichtspunkt im Wald von Compiègne (c) Michael Kneffel

Pierrefonds liegt am östlichen Rand des Walds von Compiègne, des drittgrößten Waldgebiets Frankreichs, ca. 80 Kilometer nördlich von Paris. Seit Louis XIV gibt es hier ein ausgedehntes Waldwanderwegenetz. Schnurgerade Wege durchziehen den wildreichen Mischwald. Wo sie zusammentreffen, weisen seit 1825 Schilder an hohen weißen Pfeilern den Weg. Verlaufen kann man sich hier kaum. Einige dieser Wege sind auch mit dem Rad befahrbar. Aber auch wer sich gerne etwas abenteuerlicher auf Trampelpfaden, kaum breiter als Wildwechsel, durch dichtes Unterholz und mannshohe Farne schlägt, kommt hier auf seine Kosten.

Wanderweg im Wald (c) Michael Kneffel

In den letzten Jahren sind asphaltierte Radstrecken dazu gekommen, nicht zuletzt ein etwa 26 Kilometer langer Radrundweg, der Pierrefonds und Compiègne ohne nennenswerte Steigungen verbindet und auch bei Skatern sehr beliebt ist. Im Wald und an seinen Rändern liegen malerische Dörfer, in deren Natursteinhäusern mit den typischen treppenartigen Giebelkanten nicht selten betuchte Pariser ihre Wochenenden verbringen. Umgeben ist der Wald im Norden, Osten und Süden von riesigen landwirtschaftlich genutzten Flächen, auf denen meistens Getreide angebaut wird. Im Sommer geben einem diese Felder ein Gefühl von Weite und Ruhe, wie es sich sonst nur am Meer einstellt.

Weizenfeld bei Retheuil (c) Michael Kneffel

Wer sich auch im Hochsommer gern bewegt, dabei aber der prallen Sonne und Hitze entgehen will, ist im Wald von Compiègne bestens aufgehoben. Das dachten wir uns jedenfalls, als wir unseren Urlaub planten. Nur gab es in diesem Sommer kaum Sonne und schon gar keine Hitze, dafür Regen wie aus Eimern und allenfalls herbstliche Temperaturen. An unserem kältesten Urlaubstag zeigte das Thermometer nie mehr als 12 Grad. Und das Mitte Juli!

In der entsprechenden Kleidung machten wir uns trotzdem täglich auf den Weg, anfangs zu Fuß, später als das Wetter etwas besser wurde, meistens auf dem Rad. In den tiefen Wald schienen bei dem miserablen Wetter nur selten Menschen zu kommen, so dass sich ausgehungerte Bremsen immer gleich in großen Mengen auf uns stürzten, was das Wandervergnügen etwas beeinträchtigte. Nach der ersten Woche waren wir aus gegebenem Anlass auch im Besitz eines kleinen Instruments, mit dem man Zecken unfallfrei aus der Haut drehen kann.

altes Tor in Saint-Jean-aux-Bois (c) Michael Kneffel

Unser Lieblingsziel in der näheren Umgebung war mitten im Wald das Dorf Saint-Jean-aux-Bois, dessen Kern eine ehemalige Benedektiner-Abtei bildet, um die herum sich viele schöne alte und sehr gepflegte Natursteinhäuser gruppieren. Große Hoffnungen hatten wir hier in das rustikale Restaurant „La Fontaine St. Jean“ und seine traditionelle regionale Küche gesetzt, das ich auf meiner Fahrradtour im Mai kennen gelernt und in guter Erinnerung behalten habe. Leider schloss es kurz nach unserer Ankunft für die Sommerferien. Wer es etwas feiner möchte, hat im Ort  auch noch die „Auberge a la Bonne Idee“ zur Auswahl.

Le Grand Marechal in Rethondes (c) Michael Kneffel

Besonders gefallen haben uns noch die Dörfer La Brèvière, Vieux-Moulin und außerhalb des Waldes Chelles, Saint-Etienne-Roilaye, Saint-Crèpin-aux-Bois und Rethondes an der Aisne.

Das Herz von Rethondes schlägt im „Le Grand Marechal“, wo man übernachten, essen, einkaufen, Fahrräder ausleihen und sich bei sehr freundlichen Menschen einfach nur wohl fühlen kann. Gehobene Küche bietet im selben Ort der Ein-Stern-Koch Alain Blot. Die Speisekarte war vielversprechend, die Preise überraschend zivil. In unserem Radfahrer-Outfit wären wir dort aber etwas fehl am Platz gewesen.

Von hier ist es auch nicht mehr weit bis zu dem berühmten Eisenbahnwaggon, in dem 1918 und 1940 die Waffenstillstandsabkommen zwischen Frankreich und Deutschland unterzeichnet wurden. Das kleine Museum, in dem der Waggon verwahrt wird, scheint leider in der zentralen Museumsverwaltung Frankreichs keine Fürsprecher zu haben.  (Fortsetzung folgt.)

das Museum zu den Waffenstillstandsabkommen (c) Michael Kneffel

Zwischen Pierrefonds und Compiègne

Pierrefonds mit gleichnamigem Chateau (c) Michael Kneffel

Immer auf der Suche nach dem schönen, alten, „typischen“ Frankreich sind wir in diesem Sommer einmal mehr in der Picardie im Norden Frankreichs fündig geworden. Für zwei Wochen haben wir uns in einem netten Ferienhaus in Retheuil einquartiert, um von dort aus den Wald von Compiègne und die in ihm gelegenen kleinen Orte zu erkunden. Im winzigen Retheuil selbst gab es nicht viel zu sehen, so dass das benachbarte Pierrefonds mit seinem eindrucksvollen Schloss unser eigentliches Zuhause wurde, wo wir unsere Ausflüge starteten und/oder beendeten. Das Schloss von Pierrefonds ist in ganz Frankreich bekannt und beliebt, weil es schon oft die Kulisse für Mantel-und-Degen-Filme bildete. Der Strom von Reisebussen, die ständig neue Besuchergruppen in das Schloss und den Ort bringen, scheint nie abzureißen.

Innenhof des Schlosses Pierrefonds (c) Michael Kneffel

Was von außen wie eine trutzige und wehrhafte Ritterburg aus dem Mittelalter erscheint, ist in Wirklichkeit noch nicht sehr alt. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Schloss nach den Plänen von Eugène Viollet-le-Duc, der u. a. auch die Restaurierung der Kathedrale Notre Dame in Paris leitete, mit viel Liebe zum Detail auf den Ruinen einer mittelalterlichen Anlage „rekonstruiert“.  Viollet-le-Duc besaß offensichtlich eine Menge Humor und interpretierte alte Baupläne ziemlich frei, was ihm von Zeitgenossen auch schon mal die Bezeichnung „Restaurierungs-Vandale“ eintrug. Eine Besichtigung des Schlosses lohnt sich trotzdem, vielleicht auch gerade deswegen.  Dort wo mittelalterliche Burgen mit Verliesen und Folterkammern aufwarten, überraschen die Kellerräume von Pierrefonds mit einer eindrucksvollen Multi-Media-Installation. Zwischen den Statuen und Grabplatten zahlreicher berühmter Franzosen aus vielen Jahrhunderten und allen politischen Lagern flüstern Schauspielerstimmen berühmte Passagen aus deren Schriften und Reden, so als würden diese alten Herrschaften auch heute noch für ihre Werte und Überzeugungen kämpfen.

in Pierrefonds (c) Michael Kneffel

Erstaunlicherweise leidet das Leben im Ort nicht unter dem Touristenandrang. Im Gegenteil. Der Tourismus trägt ganz erheblich dazu bei, dass sich in Pierrefonds alle Einrichtungen halten, die das Leben dort angenehm machen: Hotels, Gastronomie, Lebensmittelgeschäfte usw. Neben dem „Café Restaurant du Commerce“, einer traditionellen Mischung aus Restaurant, Brasserie, Bistrot, Café, Bar, Tabakladen und Wettannahme gibt es zwei ausgezeichnete Boulangerien / Patisserien. Uns hat es besonders „Vanille & Chocolat“ angetan, dessen immer krummen Baguettes einfach sensationell sind. Ein Charcutier-Traiteur mit Rotisserie und zwei kleine Lebensmittelgeschäfte sichern mehr als die Grundversorgung.

Zu unserem Lieblingsplatz in Pierrefonds wurde schon bald eine Bank in einem Gartenlokal direkt unterhalb des Schlosses, das wunderbar improvisiert wirkt, an seinen Eingängen mit Crepes, Eis und Zuckerwatte wirbt und von einem älteren Ehepaar betrieben wird. Immer im Laufschritt wuseln die beiden zwischen den Tischen und Bänken umher, finden aber trotzdem für alle Gäste ein freundliches Wort und lachen gern mit ihnen. Insbesondere Kinder, die gerade das Schloss besichtigt haben und ihre neuen  Holzschwerter und Ritterfiguren präsentieren, fühlen sich von diesem Lokal angezogen, nicht zuletzt wegen des alten Karussells in der hintersten Ecke.

unser Lieblingsplatz in Pierrefonds (c) Michael Kneffel

(Fortsetzung folgt.)