Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 15

15. Tag, Sonntag, 22.05.2011, Chatelleraut – Poitiers, Bordeaux – Biganos, 78 km, 8:30 -18:30 Uhr

Die Nacht blieb trocken. Ich stehe um 6:30 Uhr auf, muss warten, bis das Sanitärgebäude aufgeschlossen wird, und starte um 8:30 Uhr. Meine bärtigen Nachbarn in den langen Gewändern beenden in der hintersten Ecke des Platzes gerade ihre Morgengebete. Es ist kühl, der Wind bläst kräftig von vorn, und ich komme kaum voran. In Cenonne-sur-Vienne überquere ich den Fluss und fahre auf dem Westufer des Clain auf Poitiers zu. Die Reifen scheinen an der Straße zu kleben. Jeder Hügel wird zur Qual. Selbst bergab habe ich das Gefühl, kräftig treten zu müssen, um nicht stehen zu bleiben. In meinen Reifen ist viel zu wenig Luft, aber mit meiner Handpumpe bekomme ich nicht mehr hinein. Von den erfolglosen Versuchen schmerzt jetzt auch noch meine linke Schulter. Nach zwei Stunden Fahrt bin ich völlig platt und demoralisiert. Kurz vor Poitiers schließen drei niederländische Radpilger im Rennfahreroutfit auf, die auf dem Weg nach Santiago bzw. Lourdes sind. Wir plaudern kurz miteinander, ich beschreibe mein Reifenproblem, sie halten sofort an, und pumpen mir die Reifen mit ihren Hochleistungspumpen auf. Danach läuft das Rad deutlich besser, trotzdem überholen mich bald ziemlich flott zwei der Radpilger vom letzten Campingplatz. Mir schwant, dass ich am Ende meine Kräfte bin. Zu wenig und zu unregelmäßig gegessen. Keine richtigen Regenerationspausen. Schließlich noch die viel zu weichen Reifen. Von Poitiers bis zur Atlantikküste, meinem nächsten Ziel, würde ich drei Tage lang durch hügeliges Gelände fahren müssen. In meinem jetzigen Zustand schaffe ich das nicht. Ich habe aber auch keine Lust, in dieser Gegend und womöglich auf ähnlichen Campingplätzen wie in Chatelleraut mehrere Tage zu pausieren, um meine Akkus wieder aufzuladen.

Als ich mittags die Stadt erreiche, steuere ich sofort den Bahnhof an und löse ein Ticket samt Reservierungen für mich und mein Rad im TGV nach Bordeaux, Abfahrt 12:48 Uhr, Ankunft 14:39 Uhr. Zwei Fahrstühle, in die ich mit knapper Not das Rad bekomme, bringen mich auf meinen Bahnsteig. Treppen hätte ich mit dem schweren Rad nicht steigen wollen und auch nicht können. Das Fahrradabteil befindet sich in Wagen 11 direkt hinter dem Triebwagen. Zwei Stufen bis in den Wagen, dann noch einmal zwei Stufen bis ins Abteil. Für das Rad müssen 4 Sitze unter einem Fenster hochgeklappt werden. Maximal zwei unbeladene Räder dürfen dort abgestellt werden. Ein Rennrad steht schon dort. Sein Besitzer hilft mir, meinen Lastesel mit Gurten zu befestigen. Ich lasse das Gepäck am Rad, ohne dass es irgendjemanden stört. Meine erste Fahrt in einem TGV hatte ich mir schneller vorgestellt. Der Zug braucht fast 2 Stunden für gute 200 km.

In Bordeaux kann ich den Bahnsteig komfortabel über eine lange Rampe verlassen. Aus der Bahnhofshalle im Untergeschoss gelange ich über die Tiefgarage ins Freie.  Ich suche auf dem Vorplatz einen Stadtplan, finde nichts, auch nicht das Touristenbüro, das hier irgendwo sein soll und von dem ich mir Übersichtskarten mit den Radwegen der Region erhofft hatte. Also orientiere ich mich an der Sonne und setze mich Richtung Westen in Bewegung. Mein Ziel ist das Becken von Arcachon am Atlantik, ungefähr 40 Km entfernt. Bordeaux ist keine Kleinstadt. Bis zur Stadtgrenze durchquere ich große und wenig attraktive Vororte. In einem mache ich Pause und esse ein Sandwich. Ab hier muss ich auf der N 250 nur noch immer geradeaus fahren. Normalerweise meide ich diese großen Nationalstraßen, aber hier gibt es weit und breit keine Alternative. Auf dem glatten Asphalt und mit der Unterstützung von Traubenzucker komme ich gut voran. Kurz nach 18:00 Uhr erreiche ich Biganos und finde einen kleinen Campingplatz am Rand des Ortes, an der Straße nach Audenge. Der Platz macht einen guten Eindruck, befindet sich aber noch im Vorsaisonschlaf. Nur die ausgehungerten Riesenmücken sind hellwach und stürzen sich auf mich. Eine einzige Toilette ist geöffnet, auch die meisten Duschen und Waschkabinen sind noch verschlossen. Ich baue in der Nähe von einem älteren niederländischen Paar auf, das den Santiago-Pilgerweg in umgekehrter Richtung befährt. Als das Zelt steht und ich geduscht bin, gehe ich in die zum Platz gehörende Bar, wo ich der einzige Gast bin. Mein Hunger hält sich in Grenzen, aber um den Abend zu füllen, esse ich eine dick mit vier Käsesorten belegte Pizza und trinke dazu zwei Bier. Ich bin glücklich, wieder im Flachland zu sein, am nächsten Tag den Atlantik zu sehen, weiß aber noch nicht, wie es dann weitergehen soll. Nach meiner ursprünglichen Planung wollte ich weiter nördlich auf die Küste treffen und sie südlich von Arcachon wieder verlassen, um dann durch das schöne Waldgebiet der „Landes“ Richtung Canal du Midi zu fahren. Auf diesen Abschnitt der Tour hatte ich mich besonders gefreut. Aber heute habe ich gemerkt, dass ich mit meinen Kräften am Ende bin und dringend eine Pause benötige.

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 12

12. Tag, Donnerstag, 19.05.2011, Bracieux – Amboise, 51 km, 12:00 – 16:00 Uhr

Gehe früh in den Ort, um zu frühstücken, mir den Markt anzusehen und Reinigungsmittel für das Zelt zu kaufen. Der Markt ist winzig. Im Hochsommer wird hier wahrscheinlich mehr los sein. Zurück auf dem Campingplatz leihe ich mir einen Eimer und wasche erst das Zelt. Danach nehme ich mir gründlich das Rad vor. Im Laufe des Vormittags leert sich der Platz fast völlig, und da im Ort auch nicht gerade viel los war, packe ich doch noch meinen Kram zusammen und verlasse den Platz kurz vor 12:00 Uhr. Nach einem netten Plausch mit dem Leiter des Touristenbüros von Bracieux fahre ich durch das Hinterland der Loire auf kleinen Straßen nach Westen. Am Straßenrand kaufe ich mir als Mittagessen eine Schale Erdbeeren „vom Erzeuger“, die großartig schmecken. Über Villesavin, Celettes und Les Montils erreiche ich in Candé-Beuvron wieder das Ufer des Flusses. Auf der D 751 fahre ich ziemlich flott neben der Loire. Einige Versuche, auf dem Radweg zu fahren, breche ich bald wieder ab. Zu mühsam. Entweder ist der Belag schlecht oder der Weg führt vom Ufer weg auf die Höhen über dem Fluss. Links neben der Straße geht es meist senkrecht nach oben. In den Felswänden gibt es viele Höhlen, in denen Restaurants, Weinkeller oder Verkostungsstände von Weinbauern untergebracht sind.

Am Nachmittag wird es ordentlich warm. Heute fühle ich mich bald schlapp und greife zu einer von zwei Portionen Maxim Energie-Gel, konzentrierte Kohlenhydrate und Mineralien, die mir ein Freund kurz vor der Fahrt noch als Notreserve mitgegeben hat. Das Zeug geht tatsächlich sofort ins Blut und katapultiert mich nach Amboise. Im Ort und vor seinem eindrucksvollen Schloss geht es zu wie in der Rüdesheimer Drosselgasse. Bustouristen aller Nationalitäten werden in 50er Trupps von Reiseleitern mit hochgehaltenen Regenschirmen durch die Gassen geschleust. Geschäfte und Bäckereien finde ich keine, dafür ein Restaurant neben dem anderen. Der Trubel geht mir schnell auf die Nerven, und ich fahre auf die Nordseite des Flusses, wo ich tatsächlich eine offene Bäckerei finde und mir ein belegtes Baguette kaufen kann.

Blick vom Campingplatz auf Amboise (c) Michael Kneffel

Der große, komfortable und für diese Jahreszeit schon gut besuchte Campingplatz liegt auf einer Insel im Fluss. Ich baue mein Zelt auf, wasche meine Klamotten, dusche und mache mich noch einmal auf in den Ort, wo ich eine nette Bar à Vin finde und zu einem leckeren Sauvignon einen herzhaften Salat bekomme, was mich wieder einigermaßen mit der Stadt versöhnt.

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 11

11. Tag, Mittwoch, 18.05.2011, Chateauneuf-sur-Loire – Bracieux, 96 km, 9:30 – 17:00 Uhr

Am Morgen ist mein Zelt völlig verklebt. Der Baum, unter dem ich geschlafen habe, hat eine Substanz abgesondert, die hunderte von Ameisen auf mein Außenzelt gelockt hat. Ich versuche sie abzuschütteln und packe das Zelt mit klebrigen Fingern zusammen. Am Abend werde ich es gründlich abspülen müssen. Der Eurovelo 6, von dem die vier Engländer erzählt haben, ist bestens ausgeschildert, hat einen guten Belag und bringt mich auf dem Loire-Deich schnell nach Westen. Ich frühstücke in Jargeau, werde Zeuge, wie auch eine ältere Deutsche dem Rubbel-Fieber erliegt, zwanzig Euro gewinnt und das Geld sofort wieder in neue Lose investiert. Auf der weiteren Fahrt genieße ich die ruhige Flusslandschaft der Loire mit ihren vielen Nebenarmen und großen Sandbänken. Der Fluss führt so wenig Wasser, wie ich es von früher aus dem Hochsommer kenne.

auf dem Eurovelo 6 an der Loire (c) Michael Kneffel

Nach so viel Weite und Stille habe ich keine Lust auf das große Orléans und beschließe, die Stadt südlich zu umfahren. Eine schlechte Entscheidung. In den Randbezirken der Stadt gerate ich in dichten Verkehr und muss eine ganze Weile suchen, bis ich in St. Hilaire – St. Mesmin wieder auf meinen Fernradweg treffe. Entschädigt werde ich kurz darauf aber in Meung-sur-Loire. Als ich in den kleinen Ort fahre, wirkt er zunächst völlig ausgestorben. Ein paar Ecken weiter, am Platz vor dem Chateau scheint es dann aber, als hätten sich alle Einwohner im alten „Café du Commerce“ verabredet. Ein gutes Zeichen. Wo so viele Einheimische einkehren, kann das Essen nicht schlecht sein. Und tatsächlich bekomme ich für 9,50 Euro einen großen Rohkostteller vom Buffet und eine ausgezeichnete Plat du Jour, das Tagesgericht. Dazu bestelle ich einen leichten, kühlen Weißwein aus der Region und eine große Karaffe Wasser.  Die Einheimischen halten sich an den Rotwein der Gegend und erweisen sich als trinkfest. Ich könnte stundenlang sitzen bleiben, zuschauen und zuhören, die entspannte Atmosphäre aufnehmen. Kurz nach 14:00 Uhr ist allerdings Schluss. Rechnungen werden an der Theke bezahlt. Die Mittagspause ist beendet.

die Loire bei Beaugency (c) Michael Kneffel

Über Beaugency setze ich meine Fahrt in Richtung Blois fort, passiere bei Lestiou ein AKW, dessen weiße Dampfschwaden aus den Kühlturm schon von weitem zu sehen waren, und mache mir allmählich Gedanken über den nächsten Campingplatz. Als ich das Schloss Chambord auf der Karte entdecke, ist der Fall klar. Ich fahre zu dem prächtigsten aller Loire-Schlösser, das ich schon von früheren Touren kenne, bin trotzdem wieder sehr beeindruckt, sehe mir eine Weile den Touristentrubel an und fahre dann weiter nach Bracieux am Südrand des großen Waldgebietes, von dem das Schloss umgeben ist. Auf dem ziemlich leeren Campingplatz stelle ich mein Zelt an einer Stelle auf, an der Regine und ich uns schon einmal in den 80ern niedergelassen haben. In meiner Nähe schlagen gleichzeitig sechs Engländer ihr Lager auf. Einer von ihnen hämmert auf seine Heringe ein, als wollte er das Zelt für die Ewigkeit verankern.

alter Mann mit Rad vor Chambord (c) Michael Kneffel

Nach einer Weile kommt der Älteste der Gruppe zu mir und lädt mich formvollendet auf eine Tasse Tee ein. Die sechs alten Knaben zwischen Ende 50 und 70 stammen aus Südengland, gehören einem Radsport-Club an, gehen öfter auf große Fahrt und haben sich in diesem Jahr vorgenommen, von Caen in der Normandie in zehn Tagen auf möglichst gerader Linie nach Saintes-Maries-de-la-Mer ans Mittelmeer zu fahren. Das bedeutet, mitten durch das Zentralmassiv und im Schnitt 100 Km am Tag zu radeln. Als ich erzähle, dass mein Plan genau darin besteht, möglichst alle Berge und Steigungen zu vermeiden, fragen mich zwei von ihnen sofort, ob ich noch Partner suche, und ernten von den anderen großes Gelächter. Die Sechs wirken auf mich sehr unterschiedlich, scheinen aber trotzdem als Gruppe gut zu funktionieren und viel Spaß miteinander zu haben. Der älteste von ihnen absolviert die Strecke im großen Wohnmobil, transportiert tagsüber das gesamte Gepäck, Stühle, einen großen Tisch und was man sonst noch alles für einen angenehmen Aufenthalt benötigt, zum nächsten Campingplatz und fährt dann am Zielort nur noch eine kleine Runde auf dem Rad. Beeindruckt bin ich von den HiTech-Rädern. Alle sehen brandneu aus, super gewartet, ohne einen Hauch von Staub oder Dreck.

Mein Rad hätte auch mal eine gründliche Reinigung und Wartung verdient. Das Zelt muss abgewaschen werden. Also nehme ich mir vor, am nächsten Tag einen Ruhetag einzulegen und solche Arbeiten zu erledigen. Nach 11 Tagen auf dem Rad wird mir eine Pause auch nicht schaden. Bevor ich mich von meinen Nachbarn verabschiede, frage ich noch, ob sie eine leistungsfähige Pumpe dabei haben, die ich mir kurz ausleihen kann, um wieder etwas mehr Druck in die Reifen zu bekommen. Einer von ihnen bringt mir eine Standpumpe, die ich kaum niederdrücken kann, und pumpt mir schließlich selbst die Reifen auf. Als er fertig ist, kommen ihm leichte Bedenken, dass der Druck nun möglicherweise zu hoch sein könnte, denn ihre Rennmaschinen laufen auf viel härteren Reifen als mein Tourenrad. Ich denke mir, lieber etwas mehr als zu wenig. Dass meine Reifen schon über 20 Jahre auf dem Buckel haben, gibt er anschließend fassungslos an seine Kumpel weiter.

Als ich abends durch den Ort gehe, den ich von früher als sehr lebendig in Erinnerung habe, bin ich ziemlich enttäuscht. Mit Mühe finde ich eine offene Bar, wo ich noch ein Bier trinken kann.

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 10

10. Tag, Dienstag, 17.05.2011, Bagneaux-sur-Loing – Chateauneuf-sur-Loire, 78 Km, 10:00-17:00 Uhr

flaches Land vor Bellegarde (c) Michael Kneffel

Um 10:00 Uhr sitze ich wieder auf dem Rad, verabschiede mich von dem Plan, dem Kanal weiter nach Süden bis Montargis zu folgen und fahre direkter auf Orléans zu. Die Gegend ist, nachdem ich mit einer ordentlichen Steigung den Kanal verlassen habe, völlig flach. Nur der Südwestwind bremst wie in den ganzen letzten Tagen meine Fahrt. Über Chateau-Landon, wo ich frühstücke und etwas Obst einkaufe, Gondreville und Moulon erreiche ich nach einigen Haken am Mittag Bellegarde. Mal hatte mich eine Baustelle umgelenkt, mal eine alte Windmühle in der Ferne.  Das alte „Café du Chateau“, in einem Außengebäude des Schlosses untergebracht, zieht mich sofort an, und ich esse dort sehr gut für 12 Euro zu Mittag. Vorspeise, Tagesgericht, Dessert und ein viertel Liter Wein. Ich liebe solche alten Restaurants, in denen die Zeit vor Jahrzehnten stehen geblieben zu sein scheint. Nach einer längeren Pause  fahre ich beschwingt auf Nebenstraßen über Nesploy nach Sury-aux-Bois, wo ich auf den Canal d´Orléans treffe. Dieser alte Schifffahrtsweg von Montargis nach Orléans wird seit langem nicht mehr benutzt, ist halb zugewachsen, ein kleines Paradies für alle Arten von Pflanzen und Tieren. Sein Uferweg ist schmal, aber gut befahrbar. Über viele Kilometer begegnet mir kein Mensch. Ab und zu entdecke ich hinter den Bäumen ein schönes Herrenhaus oder kleines Schloss. Eine wunderbare, stille Gegend. In Vitry-aux-Loges verlasse ich den Kanal wieder, um meinen nächsten Campingplatz in Chateauneuf-sur-Loire anzusteuern, der auf dem südlichen Ufer des Flusses liegt.

am Canal d´Orléans (c) Michael Kneffel

Der Tag war wieder sehr sonnig, und auch am Abend ist es noch angenehm warm. Das Zelt baue ich mit Blick auf die breite Loire im Schatten unter einem Baum auf. Hier bin ich im Zentrum des Radtourismus angekommen und treffe sofort vier stabile Engländer, die dem Eurovelo 6 von Nantes nach Osten folgen und die Sache offensichtlich sehr sportlich angehen. Später trifft ein weiterer Engländer auf dem Platz ein, der mit dem Rad nach Santiago de Compostela fährt. Nach den bisherigen leeren oder fast ausschließlich von Dauercampern bewohnten Plätzen tut es gut, mal wieder auf einem belebteren Platz zu übernachten. Im Laufe des Abends trifft noch eine größere Zahl an Wohnmobilen ein.

Ich wasche wieder meine Radkleidung, genieße die abendliche Dusche und setze mich in den großen Gemeinschaftsraum mit Tischen, Stühlen, Fernseher und „WIFI“, so heißt in Frankreich der kostenlose WLAN-Zugang. Leider kommen bald einige jüngere Dauercamper dazu, die sich im Fernsehen eine Sendung aussuchen, die auf mich völlig gaga wirkt, die jungen Franzosen aber fesselt und köstlich amüsiert. „Prekariatsfernsehen“ auf französisch. Ich verlasse den Raum schnell wieder und unterhalte mich draußen noch ein wenig mit dem Radpilger, der sich gerade mühsam etwas auf seinem Mini-Kocher zubereitet hat und sich über den Hinweis freut, dass mittags in fast allen traditionellen Restaurants Tagesgerichte oder kleine Menüs sehr günstig angeboten werden.

Vor dem Einschlafen denke ich noch lange über meine weitere Route nach. Bis zur Einmündung der Vienne hinter Tours werde ich auf jeden Fall der Loire folgen. Wenn ich dann entlang der Vienne nach Süden fahre, werde ich spätestens hinter Poitiers eine ganze Reihe von Steigungen zu bewältigen haben, worauf ich mit meinem schweren Rad nach den Erfahrungen der letzten Tage keine große Lust mehr habe. Folge ich der Loire bis zur Mündung hinter Nantes und biege erst an der Küste nach Süden ab, kann ich schön im Flachen bleiben, muss dann aber auch viele zusätzliche Kilometer in Kauf nehmen.

Am nächsten Tag will ich mir in einem Touristenbüro eine Karte mit den Radwanderwegen an der Loire besorgen.

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 9

09. Tag, Montag, 16.05.2011, St.-Germain-lès-Corbeil – Bagneaux-sur-Loing, 80 km, 9:45-17:00 Uhr

Am Morgen ist es sonnig, windig und zunächst wieder kühl. Nach einem guten Frühstück fahre ich entlang der Seine nach Südosten, durchquere einen Wald auf schönen Wegen und sehe prächtige Häuser und Anwesen am Ufer des Flusses. Besonders gut gefällt mir das hübsche und lebendige Seine-Port. Mittags mache ich Pause in Melun und bestelle in einem Restaurant das „Formule“, eine Vorspeise, eine Hauptspeise und ein Dessert von der Karte nach Wahl für 12,90 Euro. Die meisten Restaurants machen mittags solche günstigen Angebote. Der Kellner versucht dann zwar, mir die Einzelpreise laut Karte in Rechnung zu stellen und mehr als das Doppelte des Formule-Preises abzuknöpfen, merkt aber schnell, dass ich mich nicht über den Tisch ziehen lassen möchte. Während des Essens habe ich mich mit einem Mann unterhalten, der in jungen Jahren durch Norddeutschland getrampt ist und anscheinend seine Deutschkenntnisse auffrischen möchte.

Lastkähne auf der Seine bei St.-Mammes (c) Michael Kneffel

Bei St.-Mammes verlasse ich das Seine-Ufer und folge von dort an dem Canal du Loing. In Nemours, wo ich eine kurze Pause einlege, treffe ich anschließend mitten auf der Loing-Brücke einen Santiago-Radpilger auf der Rückfahrt nach Deutschland, behängt mit allen erdenklichen Insignien der Pilgerschaft, Kreuze, Jakobsmuscheln, Pilgerstab usw., der sofort anhält und mir seine Geschichte erzählt, während er sich in aller Ruhe eine Zigarette dreht.  Mehr als 4000 km hat er bereits hinter sich, muss in dreieinhalb Stunden seinen vorgebuchten Zug im ca. 80 Km entfernten Paris erreichen, hat nach einer Radreparatur, die ihn um zwei Tage zurückgeworfen hat, keinen Cent mehr in der Tasche und seit zwei Tagen nichts gegessen, ist aus den Kirchen der Umgebung rausgeflogen, als er um eine kleine finanzielle Unterstützung gebeten hat. Ich bin schwer beeindruckt und helfe F., der aus der Gegend von Köln stammt und mit Hamburger Akzent spricht, mit einigen Euro aus, bevor wir uns verabschieden und in entgegengesetzten Richtungen weiterfahren.

Um 17:00 Uhr erreiche ich nach einer ruhigen Fahrt den kleinen Campingplatz von Bagneaux-sur-Loing, der unweit der einzigen Fabrikanlage liegt, die ich an diesem Tag gesehen habe. Ein typischer Dauercamperplatz neben der Sportanlage des Ortes. Kaum Menschen zu sehen. Das Duschwasser ist nahezu kalt. Aus allen anderen Warmwasserhähnen kommt dagegen fast kochend heißes Wasser.

Der Wechsel auf meine zweite Radhose mit einem dickeren Polster hat sich bewährt. Ich bin ohne neue Blessuren durch den Tag gekommen. Nur das rechte Hüftgelenk macht sich etwas bemerkbar. Ich verzichte darauf, noch einmal in den Ort zu fahren, und lege mich früh schlafen.

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 8

08. Tag, Sonntag, 15.05.2011, Crepy-en-Valois – Saint-Germain-lès-Corbeil, 110 Km, 9:00-19:00 Uhr

Der Tag beginnt mit einem Hotelfrühstück, dem die Croissants und das Baguette fehlen. Der Bäcker hat noch nicht geliefert . Ich halte mich an Zwieback und Obst. Auf der Straße ist es wieder sehr windig und kühl. Als es auch noch zu regnen anfängt, habe ich alles an, was warm und trocken halten kann. Über Ormoy-Villers, wo ich etwas Obst kaufe, Nanteuil-le-Haudouin, Lagny-le-Sec, St.-Mard und St.-Mesmes nähere ich mich Paris unter einer endlosen Prozession von Fliegern, die von Osten her den Flughafen Charles-De-Gaulle ansteuern. Über mir sehe ich immer mindestens drei Maschinen am Himmel. Die flache Landschaft wird beherrscht von Getreide- und Maisfeldern. Die Dörfer dazwischen wirken menschenleer. Ich kann noch erkennen, wo es früher mal Geschäfte und Cafés gegeben hat.

In Gressy erreiche ich endlich den Canal de l´Ourcq, dessen Uferweg dafür gerühmt wird, Radfahrer schnell und komfortabel durch die nicht immer attraktiven Vorstädte in´s Zentrum von Paris zu bringen. Die ersten der über 20 Km Kanaluferweg fangen gut an. Zwei Spuren, glatter Asphalt. Eine Menge Radfahrer und Skater sind unterwegs. Nach wenigen Km lässt die Qualität des Weges aber kräftig nach, und er wird auf langen Abschnitten zur Marterstrecke für Rad und Fahrer. Kurzzeitig führt der Weg vom Kanalufer weg und durch ein Park- und Waldgebiet. Schilder und Markierungen sind hier Mangelware. Je näher ich dem Stadtzentrum komme, desto weniger andere Radfahrer sind zu sehen. Das Grün verliert sich, Gewerbeflächen und Brachen wechseln sich ab, und wenn ich Menschen sehe, sind sie dunkelhäutig und gehören nicht zu den Gewinnern der gesellschaftlichen Entwicklung in Frankreich. Am Abend möchte ich hier nicht unbedingt durchkommen. Einige Km vor dem Ende des Weges im Parc de la Vilette warnen mich Baustellenhinweise und Umleitungsschilder, dass es mit meinem Uferweg bald vorbei sein wird, da stehe ich auch schon zwischen Bauzäunen im Niemandsland. Keine weiterführenden Hinweise weit und breit. Ich schiebe über Baustellen, zwänge mich durch Absperrungen, konkurriere mit versprengten Fußgängern um schmalste Wege zwischen Metallzäunen und stehe plötzlich vor einer Treppe, die zur Metro hinunter führt und so riecht, als würde sie schon länger als öffentliches WC genutzt. Ich quetsche mich daran vorbei und stehe nach einigen Metern tatsächlich auf einer belebten Pariser Straße in der Nähe des Parks. Von hier bis zum Canal St. Martin, der mich nach Süden fast bis zur Seine bringen soll, ist nur noch ein kleiner Orientierungs- und Hindernisparcours zu überwinden, und schon erreiche ich den breiten Radweg, der den Kanal begleitet. Da am Canal sonntags Märkte aller Art abgehalten werden, ist dieser Weg zunächst nahezu lückenlos mit den Lieferwagen der Markthändler vollgestellt. Erst nach einigen Kilometern kommen Straßenabschnitte, die am Wochenende Fußgängern, Radfahrern und Skatern vorbehalten sind. Es ist inzwischen wieder sonnig und trocken, so dass ich mir einen Tisch vor dem Restaurant „L´Atmosphère“ suche, wo ich mir zur Feier des Tages einen großen Salat Nicoise und einen Weißwein bestelle. Der Wind ist allerdings immer noch so kräftig, dass er mir fast den Salat vom Teller bläst.

Beweisfoto. Ich war in Paris. (c) Michael Kneffel

Nach der späten Mittagspause möchte ich die Stadt so schnell wie möglich wieder verlassen. Über die Place de la Bastille fahre ich durch dichten Verkehr bis zur Seine und passe mich unterwegs dem offensiven Fahrstil der einheimischen Radler an, die in beachtlicher Zahl vor allem auf Mieträdern unterwegs sind. Auf dem südlichen Seine-Ufer schlage ich den Kurs Südost ein und komme besser voran als gedacht, zunächst noch auf Radwegen, später dann auf der Straße. Der Pariser Glanz verflüchtigt sich bald. Die Gegend wird immer schäbiger und staubiger. An Gewerbegebieten und Verladeeinrichtungen vorbei folge ich der Seine bis Choisy-le-Roi, wechsle auf das andere Ufer und fahre auf Hauptstraßen weiter bis Montgeron. Hier ist die Straße für ein Fest gesperrt. Auf Nebenstraßen gelange ich endlich in den Foret Domaniale de Sénart, ein Waldgebiet, das mir anzeigt, dass ich die Metropole hinter mir gelassen habe. Mit mir zusammen genießen viele Spaziergänger, Radler und Skater den späten Sonntagnachmittag im Grünen. Mein Hinterteil signalisiert allerdings, dass ich mir allmählich eine Bleibe für die Nacht suchen muss. Campingplätze habe ich bei meiner Vorbereitung auf die Tour in dieser Gegend keine entdeckt. Es läuft also wieder auf eine Hotelübernachtung hinaus. In Tigery entdecke ich an der Straße einen Hinweis auf ein Hotel, das allerdings komplett ausgebucht ist. Ich werde weiter geschickt nach Saint-Germain-lès-Corbeil und finde dort schließlich ein Etap-Hotel neben der Autobahn. Ich zahle noch weniger als am Vorabend, dafür ist das Zimmer aber auch deprimierend. Dass ich wieder bei McDonalds essen muss, hebt meine Stimmung auch nicht gerade.

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 7

07. Tag, Samstag, 14.05.2011, La Fère – Crepy-en-Valois, 91 Km, 9:30-18:00 Uhr

die Aisnes bei Rethondes, (c) Michael Kneffel

Der Himmel am Morgen ist grau und sieht nach Regen aus. Es bleibt trocken, ist zunächst kühl, wird später am Tag aber wieder sonnig und warm . Durch das ziemlich hässliche Tergnier fahre ich nach Chauny, das mir wesentlich besser gefällt. Dort finde ich einen guten Fahrradladen und freundliche Menschen, die mir meine inzwischen etwas weichen Reifen mit einer vernünftigen Standpumpe aufpumpen. Mit meiner Handpumpe habe ich einfach nichts rein bekommen in die Reifen. Der Wind scheint etwas auf Nordwest zu drehen. Das wäre einfach zu schön. Nicht mehr den ganzen Tag frontal gegen den Wind strampeln müssen. Über Manicamp, Brétigny, Pontoise-lès-Noyon und Carlepont erreiche ich den schönen Wald von Compiègne mit seinen schnurgeraden Forststraßen. Rethondes an der Aisnes gefällt mir besonders gut. Frankreich wie im Bilderbuch. Impressionisten-Land. Die alte Brasserie „Le Grand Marechal“ hat es mir angetan. Hier würde ich gern mal Station machen. Jetzt ist es mir dafür allerdings noch zu früh am Tag. Das Dorf bereitet sich für ein Fest vor.

„Le Grand Marechal“, (c) Michael Kneffel

Bis Paris ist es nicht mehr weit. Gutsituierte Bürger aus der Hauptstadt  scheinen hier in den Dörfern ihre Wochenenden zu verbringen und kleine, aber sehr feine Häuser zu besitzen. Auf die Infrastruktur wirkt sich das spürbar aus. Es gibt plötzlich wieder Geschäfte, Cafés und Restaurants, die ich in den letzten Tagen meist vergeblich gesucht habe. Das Postkartendorf St.-Jean-aux-Bois, das ich als nächstes erreiche, scheint ganz in der Hand von Wochenendtouristen zu sein.  Wer hier wohnt, hat Geld, aber nicht unbedingt Kenntnis der Gegend, wie ich bei meinen Fragen nach dem richtigen Weg feststelle. Beim Verlassen des Waldes muss ich unerwartet eine lange und üble Steigung nehmen.

Campingplätze sind in dieser Gegend Fehlanzeige, aber bei einer Pause habe ich den Hinweis auf ein einfaches Hotel in Crépy-en-Valois erhalten. Der Ort, den ich am späten Nachmittag erreiche, macht einen sehr lebendigen Eindruck, am Ortsrand beeindrucken mich die ersten reifen Kirschen des Jahres. Leider liegt das Hotel „Akena“ in einem Gewerbegebiet weit außerhalb, zwischen Netto-Riesensupermarkt und Tankstelle. Bis ich meine Sachen in dem schlichten Zimmer untergebracht, meine Sachen und mich gewaschen habe, ist es so spät, dass ich keine Lust mehr habe, weit bis in den Ort zu laufen. Ich esse schließlich zusammen mit der lauten Jugend des Ortes bei McDonalds in der Nähe des Hotels, für das ich 42 Euro bezahle, plus 6 Euro für das kommende Frühstück. Weil es vor dem Hotel keine Möglichkeit gibt, das Rad sicher festzumachen, kommt es mit auf´s Zimmer.

Sicher ist sicher. Mein Drahtesel im Hotelzimmer. (c) Michael Kneffel

Im Fernseher laufen den ganzen Abend Berichte über Dominique Strauss-Kahn und seine Festnahme in New York.

Bis hierhin bin ich nun in meiner ersten Woche schon gute 600 Km gefahren und bin trotzdem noch nicht in Paris. Das Zentrum der Hauptstadt, die ich gern am ruhigen Sonntagvormittag durchfahren hätte, liegt noch schätzungsweise 60 km weit weg. Soll ich am nächsten Tag noch einmal Station vor Paris machen? Dazu habe ich eigentlich keine Lust. Das würde auch eine weitere Hotel-Übernachtung bedeuten, da ich bis zur Stadtgrenze keine Campingplätze mehr gefunden habe. Soll ich in Paris auf Hotelsuche gehen? Vielleicht finde ich ja was am angesagten Canal St. Martin, der auf meiner Strecke durch die Metropole liegt.

Mit dem Fahrrad von Essen nach Südfrankreich – Tag 6

06. Tag, Freitag, 13.05.2011, Le Nouvion-en-Thiérache – La Fère, 68 km, 10:00-15:00 Uhr

Ich schlafe etwas länger als sonst und sitze erst um 10:00 Uhr wieder auf dem Rad. Es ist sonnig, kühl, windig und hügelig. Ab Vadencourt folge ich der Oise bzw. dem Canal de la Sambre à l´Oise in südwestlicher Richtung und damit weiterhin gegen den Wind. Zunächst fahre ich durch Bauernland mit kleinen Feldern, später werden die durch große Monokulturen abgelöst. Den Feldern ist deutlich anzusehen, dass es in den letzten Wochen viel zu wenig geregnet hat. Das Getreide sieht noch einigermaßen gesund aus, aber die Mais- und die Gemüsefelder befinden sich in einem traurigen Zustand. La Sécheresse, die Trockenheit,  wird zum Dauerthema der Regionalzeitungen und meiner kleinen Plaudereien mit Franzosen, die ich treffe. Was für das Fahrradfahren angenehm ist, entwickelt sich für die Landwirtschaft zum echten Problem.

Relativ früh mache ich in La Fère Schluss, weil der nächste Campingplatz auf meiner Karte erst viel später zu erreichen wäre. Mein Platz, am Rande eines Sportgeländes gelegen und vom Platzwart mit betreut, ist völlig leer, aber von den Einrichtungen her gut in Schuss. Als das Zelt steht,  meine Wäsche und ich gewaschen sind, mache ich mich zu Fuß auf den Weg in´s Zentrum des gar nicht mal so kleinen Ortes und finde ganz am Rande der Innenstadt ein Restaurant mit französischer Küche. Ich esse gut und viel, trinke zuviel Wein, freue mich über die nette Atmosphäre im Lokal, das sehr gut besucht ist und in dem eine Großfamilie etwas zu feiern hat. Drei Generationen an einem langen Tisch. Endlich fühle ich mich in Frankreich angekommen.

Auf meinem Campingplatz sind am Abend noch zwei Wohnmobile dazu gekommen.

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 5

05. Tag, Donnerstag, 12.05.2011, Labuissière – Le Nouvion-en-Thiérache (F), 89 km, 8:00-17:00 Uhr

Früh am Morgen, ungewaschen und ohne meine Wasserflaschen irgendwo auffüllen zu können, verlasse ich den Platz und folge schon bald wieder dem schönen Uferradweg. In Jeumont überschreite ich die Grenze nach Frankreich und nehme in einem der typischen kleinen Etablissements mit dem Titel Bar/Café/Tabac/PMU meinen Café au lait. Für die Croissants schickt mich der Besitzer, der sich als Kind einer Leipziger Mutter outet, in die Bäckerei drei Häuser weiter und ich registriere dankbar, dass er mich nicht auf den Supermarkt gegenüber verweist, wo es ebenfalls Gebackenes gibt. Croissant und Pain au Chocolat sind ausgezeichnet, ich fülle meine Wasserflaschen auf und beobachte danach noch eine Weile die Rubbel-Los-Sucht, der offenbar nicht wenige Einwohner Jeumonts verfallen sind. Getrunken wird in dieser Bar nicht viel, gerubbelt aber non-stop. Vor allem ältere Menschen legen nicht gerade wenig Geld auf die Theke in der Hoffnung auf das schnelle Glück. Wo immer ich in den folgenden Tagen auf einen Kaffee oder eine Orangina einkehre, spielen sich dieselben Szenen ab. Ein Land im Rubbel-Fieber.

Bis hinter Maubeuge ist mein Radweg in gutem Zustand und auch die Beschilderung ist in Ordnung. Danach verlieren sich beide irgendwo in der Landschaft. Ich fahre ab Hautmont Landstraße und bin froh, meine dicke Regenjacke anzuhaben, weil der Wind kühl und stramm von vorn kommt. Mit dem Abschied vom Ufer beginnen sofort die Steigungen. Ab Berlaimont finde ich dann aber doch wieder stille kleine Straßen, die in der Nähe der Sambre ziemlich flach verlaufen. An Maroilles vorbei und durch Landrecies gelange ich auf einer ruhigen Tagesetappe nach Boué, wo es zwei Campingplätze geben soll. Ich finde nicht mal einen und fahre weiter nach Le Nouvion-en-Thiérache. Das Städtchen macht einen lebendigen Eindruck, ich sehe mehrere Restaurants und freue mich auf ein gutes Abendessen. Der Campingplatz des Ortes, etwas außerhalb gelegen an einem kleinen See auf dem parkähnlichen Grundstück eines eindrucksvollen Herrenhauses ist weitestgehend leer, aber großartig. Die Übernachtung kostet trotzdem für den Radtouristen nur 3,21 Euro! Nach dem Zeltaufbau wasche ich meine Radkleidung, spüle den Staub vom Rad und gehe schließlich duschen. Hätte mich trotz des kühlen Vormittags besser eincremen sollen. Mein linkes Ohr, die linke Wade und die Handrücken sind reichlich rot.

Mit dem Rad erkunde ich kurz nach 20:00 Uhr den Ort und muss feststellen, dass alle Restaurants inzwischen geschlossen sind. Nur eine Stehpizzeria hat geöffnet. So groß ist der Hunger dann doch nicht. Zurück auf dem Campingplatz kann ich noch eine Dose Erdnüsse und zwei Dosen Fanta kaufen, die mein Abendessen werden. Allmählich entwickelt sich meine Fahrradtour zur Fastentour. Dabei bin ich gar nicht auf dem Pilgerweg! Im Gemeinschaftsraum des Platzes unterhalte ich mich mit einem niederländischen Paar in meinem Alter, das auf der „Van-Gogh-Route“ von Paris nach Amsterdam fährt und die eigene Route per GPS erfasst, um sie später anderen Radtouristen zu verkaufen.

In dieser Nacht singen mich die Kröten des Sees in den Schlaf und meine Sonnenbrände halten mich warm.

Mit dem Rad von Essen nach Südfrankreich – Tag 4

04. Tag, Mittwoch, 11.05.2011, Sclayn – Labuissière, 95 km, 8:45-18:00 Uhr

Ich starte bei kühlen Temperaturen und deutlichem West-/ Gegenwind, der mir bis zum Abend treu bleibt. Zuvor hat mir mein Gastgeber noch versichert, dass es einen guten Uferradweg bis Charleroi, meinem nächsten Etappenziel geben werde. Meine Radhose und mein Hinterteil habe ich heute mit Vaseline und der besagten Hirschtalg-Creme präpariert. Bis zum Ende der Tour schützt mich dieses tägliche Verfahren weitestgehend vor neuen Problemen.

am Zusammenfluss von Meuse und Sambre in Namur, (c) Michael Kneffel

Anfangs an der Maas, die in Belgien Meuse heißt, ist der Weg tatsächlich prima. Im hübschen Namur überquere ich den Fluss und fahre am Südufer der Sambre weiter, die hier unterhalb der mächtigen Vauban-Festung einmündet. Mit dem guten Radweg ist es schnell vorbei. Ohne Vorankündigung ist der Weg plötzlich wegen einer Baustelle völlig gesperrt. Ich fahre auf der Landstraße weiter, versuche es später noch einmal mit dem Uferweg und stehe kurz darauf vor der nächsten Vollsperrung ohne Vorwarnung. Schade, denn die Sambre windet sich hier wirklich sehr schön durch die Landschaft. Also fahre ich auf der Landstraße weiter, die den Fluss begleitet und muss sofort einige Steigungen nehmen. Bei Arsimont stehe ich plötzlich vor einer autobahnähnlichen Schnellstraße. Keine Überführung, keine Unterführung. Einfach Ende meiner Straße. Ein radelndes Paar steht ebenso irritiert wie ich vor diesem Hindernis und fährt dann wieder zurück. Ich warte eine große Lücke im Verkehr ab und schiebe schließlich mein Rad so schnell wie möglich auf die andere Seite, wo meine Landstraße sich fortsetzt. Es wird deutlich wärmer, allmählich wieder industrieller, und ich beschließe, nicht mehr jeder Windung der Sambre zu folgen, sondern direkt über Pont-de-Loup den Süden von Charleroi anzusteuern. So wie hier hat das Ruhrgebiet vor 30 Jahren etwa in der Emscherregion ausgesehen. Potthässlich. Auf staubigen Straßen, die sich in einem fürchterlichen Zustand befinden, nähere ich mich weiter der Stadt von Südosten. Am Ende finde ich wieder einen fahrbaren Uferweg, der mich an Schrottplätzen und Werksgeländen vorbei durch den Süden der Stadt führt. „Kindermördergegend“ hätte man früher im Ruhrgebiet zu einer solchen Gegend gesagt. Es wundert mich nicht, dass mir hier plötzlich auf dem Radweg ein Streifenwagen der Polizei entgegen kommt.

Mein Uferweg endet abrupt unter einer Brücke im Innenstadtbereich und entlässt mich in eine Gegend, die ausschließlich von Menschen mit nordafrikanischen Wurzeln bewohnt zu sein scheint. Ich fahre einfach in Richtung Westen weiter, hilfreiche Straßenschilder kann ich nirgendwo entdecken, gelange zur Großbaustelle vor dem Südbahnhof der Stadt, frage einige Passanten, um mich zu vergewissern, dass ich noch auf dem richtigen Kurs bin, und verlasse den Innenstadtbereich auf einer großen Ausfallstraße. Was ich von Charleroi gesehen habe, war scheußlich und angetan, mich auf dem schnellsten Wege wieder aus der Stadt zu treiben. An einer Tankstelle mache ich eine späte Mittagspause, esse zwei Sandwichs und trinke etwas aus der Kühltheke. Danach geht es kilometerweit schnurgeradeaus und leider auch stetig bergauf.

Seit dem Vortag habe ich in meinem linken Auge ein Fremdkörpergefühl, das immer unangenehmer wird. Staub und Straßendreck sind auf dem besten Weg, eine Bindehautentzündung zu verursachen. Ich stoppe an einer Apotheke, kaufe gegen die Reizung Augentropfen, die nach einigen Stunden wirken, und erfahre vom freundlichen Apotheker, dass ich die falsche Ausfallstraße erwischt habe und noch weiter nach Westen muss. Der Apotheker lässt leider auch keinen Zweifel daran, dass ich auf dem Weg zu „meiner“ Straße zwei ganz üble Steigungen nehmen muss. Ich folge seiner Wegbeschreibung und stelle fest, dass er nicht übertrieben hat. Mein Herz schlägt hart, ich schnappe nach Luft und muss zum ersten Mal auf meiner Tour kurz vor dem Ende der Steigung aus dem Sattel und schieben. Nach einer rasenden Abfahrt kommt die nächste Steigung gleichen Kalibers, dann wieder eine heftige Abfahrt und ich erreiche erneut die Sambre, bei Montigny.

schöner Ort für eine Pause, das „La Guinguette“ an der Sambre, (c) Michael Kneffel

Hier beginnt nun der schönste Abschnitt meiner bisherigen Tour. Entlang der jetzt sehr idyllischen und stillen Sambre führt ein komfortabler Uferweg an mehreren kleinen Schleusen vorbei in langen Schleifen durch ein sattgrünes Bauernland. An der ersten Schleuse, in der Nähe der Ruine der Abbaye d´Aulne, genehmige ich mir im Restaurant „La Guingette“ eine Pause und einen Kaffee. Der Name gefällt mir. Guingettes hießen früher die beliebten einfachen Ausflugs- und Tanzlokale an den Ufern von Seine und Marne rund um Paris. Seit einiger Zeit sollen sie dort eine Renaissance erleben. In Belgien habe ich damit allerdings nicht gerechnet. Es wird langsam Zeit, nach einem Campingplatz Ausschau zu halten, und die Kellnerin ist sich sicher, dass es etwas außerhalb von Thuin, so heißt der nächste Ort am Fluss, einen kleinen Platz gibt. Nur in Thuin weiß leider kein Mensch davon, und ich setzte meine Fahrt an Lobbes und Fontaine-Valmont vorbei fort. Es ist jetzt offensichtlich die Stunde der Angler. Andere Menschen sehe ich nicht mehr. So spät am Tag war ich sonst nicht mehr unterwegs. Allmählich mache ich mich mit dem Gedanken vertraut, mein Zelt irgendwo in der freien Natur aufbauen zu müssen, als ich in einer Bar in Labuissière noch einmal nachfrage und ein Gast mir den Weg zu dem Campingplatz „La Cascade“ etwas außerhalb beschreibt.

Nach 18:00 Uhr erreiche ich heilfroh, noch was gefunden zu haben, den Platz und merke gleich, dass der etwas anders ist. Eine Ansammlung von Holzhütten in einem am Hang gelegenen Waldstück. Ich komme oben an einer großen Kindergruppe vorbei, die an einer Baracke spielt, die ich für eine Sanitäranlage im weitesten Sinne halte. Ein Teil der Kinder folgt mir bis unten, wo an einem Teich eine Kneipe liegt, und bombardiert mich mit Fragen. Ich frage meinerseits in der Kneipe nach einem Stellplatz und der Wirt kommandiert einen Gast ab, der mir ein Stück Wiese am Teich zuweist. Ich baue das vom Vortag immer noch nasse Zelt auf und mache mich auf die Suche nach den Waschräumen. Ein Junge auf einem Rad rät mir von den Sanitäranlagen ab, die seiner Meinung nach nicht besonders sauber sind. Ich bleibe hartnäckig und er weist mir schließlich den Weg zu einigen Holzhütten. Was ich aus der Entfernung sehe, reicht mir, um schnell wieder abzudrehen. Stattdessen gehe ich zur Kneipe, frage nach dem Preis für die Übernachtung, bekomme von der Chefin des Platzes zu hören, dass sie dafür nichts verlangt. Ich bedanke mich, stelle mich an den Tresen und bestelle erst mal ein Bier. Mit den heftig rauchenden Stammgästen komme ich schnell ins Gespräch, werde von neu Hinzukommenden herzlich und mit Handschlag begrüßt und ansatzlos in die Kneipenfamilie aufgenommen. Große Wandbilder mit Bergbauszenen machen mir klar, dass ich mich immer noch in einer Industrieregion befinde, die aber ihre besten Zeiten schon lange hinter sich hat. Mir kommt der Verdacht, dass die Bewohner des Platzes hier nicht nur ihre Freizeit verbringen, sondern tatsächlich wohnen. Ich esse noch einen Salat, gehe dann die Hütte oben am Hang inspizieren, die wie eine Sanitärbaracke aussah, entdecke eine Duschkabine mit Vorhängeschloss, frage einen älteren Herrn im weißen Bademantel, der entspannt vor einer der Nachbarhütten sitzt, nach der Dusche. Der ruft nach einer Frau in der Nachbarhütte. Ein Junge kommt heraus, hört sich den Fall an, verschwindet und kommt kurz darauf mit einem Schlüssel wieder. Für´s Duschen verlangt er 1,50 Euro. Ich bezahle, werde so doch noch den Staub und Schweiß des Tages los, gebe den Schlüssel zurück und ziehe mich in´s Zelt zurück. Damit ist der Tag aber noch nicht zu Ende. Aus gegebenem Anlass mache ich die Entdeckung, dass man übel riechende Sportschuhe und ihre Innensohlen nachhaltig mit Autan-Insektenspray desodorieren kann. Gegen hungrige Insekten aller Art hat mir das Zeug nicht geholfen, auf Sonnenbrand brennt es wie die Hölle, aber gegen Fußschweiß wirkt es wahre Wunder.

Immer, wenn ich nachts wach werde, und das passiert oft, kläfft ein Hund. Die Nacht ist wieder ziemlich kalt.